Als der Gesetzgeber im Jahre 2002 das Staatsziel Tierschutz im Grundgesetz verankerte, verbesserte er zwar den Schutz der Tiere, schuf damit aber zugleich ein Konkurrenzverhältnis zum Grundrecht der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit. Seitdem muss zwischen dem Staatsziel Tierschutz und dem Grundrecht Wissenschafts- und Forschungsfreiheit abgewägt werden. Das gilt in besonderem Maße nach der Verabschiedung der Tierversuchsrichtlinie im Jahre 2010, die das Niveau des Tierschutzes auf der Ebene der Europäischen Union (EU) anzugleichen und zu erhöhen versucht. Was ist im Konfliktfall höher zu bewerten, die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit oder der Tierschutz? Und welche Folgen ergeben sich aus der Abwägung für die Praxis?
Der Tierschutz als Staatsziel
Vor der Verankerung des Staatsziels Tierschutz in Artikel 20a GG war die Sache klar: Kollidierte der Tierschutz mit der Freiheit von Wissenschaft und Forschung, so hatte im Zweifelsfall letztere Vorrang. Dieser kommt mit der Verankerung in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes nämlich der Status eines Grundrechtes zu, das ohne Vorbehalt formuliert ist: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Die Besonderheit eines Grundgesetzes ist, dass es eingeklagt werden kann, bis hin zu einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. Mit dem steigenden Bewusstsein für den Tierschutz wurde dessen schwache rechtliche Stellung jedoch als unbefriedigend erachtet. Daher brachten SPD, CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag einen gemeinsamen Gesetzentwurf ein, in dem es u. a. heißt: „Die Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung soll den bereits einfachgesetzlich normierten Tierschutz stärken und die Wirksamkeit tierschützender Bestimmungen sicherstellen.“i So wurden die Worte „und die Tiere“ in Artikel 20a GG eingefügt, der somit lautet: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Mit der Erhebung zum Staatsziel hat der Tierschutz allerdings nicht den Rang eines Grundrechtes, was die Frage aufwirft, inwieweit daraus eine Unterordnung zu schließen ist.
Die EU-Tierversuchsrichtlinie von 2010
Auf EU-Ebene hatten sich die Regelungen zum Tierschutz auseinanderentwickelt. Einige Mitgliedstaaten hatten nationale Durchführungsvorschriften erlassen, die ein hohes Schutzniveau für Tiere, die für wissenschaftliche Zwecke verwendet werden, gewährleisteten, während andere Mitgliedstaaten nur die Mindestanforderungen der Tierversuchsrichtlinie von 1986 anwendeten. Um die Unterschiede in der Rechtslage der Mitgliedstaaten zu beseitigen, wurde die bisherige Tierversuchsrichtlinie am 22. September 2010 durch eine neue ersetzt. Diese soll ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes gewährleisten und zugleich eine Erhöhung des Tierschutzniveaus bewirken. Auf Grundlage des 3R-Prinzips (Replacement, Reduction, Refinement = Vermeidung, Verminderung, Verbesserung) sollen vermehrt Alternativmethoden anstelle von Tierversuchen zur Anwendung kommen.ii
Mit der neuen Tierversuchsrichtlinie trat das Konkurrenzverhältnis von Tierschutz und Wissenschafts- und Forschungsfreiheit noch deutlicher zutage. Dies veranlasste das Bundesministerium für Bildung und Forschung, zwei Gutachten in Auftrag zu geben. Zum einen sollte geprüft werden, ob die Tierversuchsrichtlinie mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, zum anderen sollten Fragen der Umsetzung in das deutsche Recht behandelt werden. Mit den Gutachten beauftragt wurden die beiden Rechtswissenschaftler Matthias Cornils und Wolfgang Löwer.iii Beide arbeiteten heraus, dass die Europäische Union ihren Kompetenzbereich sehr weit ausdehne, ja sogar überschreite. So habe sie keine unmittelbare Kompetenz für den Tierschutz, sondern nur eine mittelbare. Den Tierschutz betreffende Regelungen der Gemeinschaft seien bisher immer auf Kompetenzen gestützt worden, die andere Regelungsgegenstände betrafen. Die Tierversuchsrichtlinie werde dementsprechend an erster Stelle mit Erfordernissen des Binnenmarktes begründet. Die vagen Ausführungen dazu ließen jedoch darauf schließen, dass diese Begründung nur vorgeschoben wird. Tatsächlich gehe es an erster Stelle um den Tierschutz. Durch die starke Gewichtung des Tierschutzes werde die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit übermäßig eingeschränkt. Insbesondere die restriktiven Bestimmungen bezüglich der Verwendung artengeschützter Tiere, nichtmenschlicher Primaten und der Menschenaffen seien unverhältnismäßig. Das gelte auch für das grundsätzliche Verbot von Tierversuchen, die starke Schmerzen, schwere Leiden oder schwere Ängste verursachen, die voraussichtlich lang anhalten und nicht gelindert werden können – ein Verbot, das nur im Ausnahmefall durchbrochen werden könne.iv Nicht die Einschränkung der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit an sich sei problematisch, sondern die Unverhältnismäßigkeit der Einschränkung.
Kriterien der Einschränkung eines Grundrechtes
Auch wenn das Grundrecht Wissenschafts- und Forschungsfreiheit ohne Vorbehalt formuliert ist, kann es dennoch eingeschränkt werden. Bei einer Einschränkung sind jedoch ganz bestimmte Kriterien zu beachten. Bei der Frage, in welchem Maße das Grundrecht eingeschränkt werden darf, spielt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit – häufig auch als „Übermaßverbot“ bezeichnet – eine entscheidende Rolle. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit erfolgt in mehreren Stufen: Zunächst ist das Eingriffsmittel auf seine „Geeignetheit“ zu prüfen. Geeignet ist ein Mittel dann, wenn das angestrebte Ziel mit seiner Hilfe erreicht oder gefördert werden kann. Dass die Förderung ausreicht zeigt, dass nicht das beste Mittel gewählt werden muss. Ist das gewählte Mittel zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet, ist in einem zweiten Schritt die Erforderlichkeit zu prüfen. Hier stellt sich die Frage, ob das angestrebte Ziel nicht auch durch einen weniger intensiven Eingriff in das betroffene Grundrecht erreicht werden kann, der allerdings gleichermaßen geeignet sein muss. Auf der letzten Stufe wird die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne geprüft. Es gilt abzuwägen, ob die Gründe für eine Einschränkung eines Grundrechtes wirklich so gewichtig und dringlich sind, dass sie das beabsichtigte Ausmaß der Einschränkung rechtfertigen.v
Die besondere Bedeutung des Gesundheitsschutzes
Neben dem Grundrecht Wissenschafts- und Forschungsfreiheit und dem Staatsziel Tierschutz kommt auch dem Gesundheitsschutz eine besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl im Gemeinschaftsrecht als auch im Grundgesetz. Gemäß Art. 2 Abs. 2 GG hat jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Diesem sozialen Grundrecht dienen die Gewinnung wichtiger medizinischer Grundlagenerkenntnisse und die Entwicklung bestimmter Diagnose- und Therapieverfahren gerade auch in der Humanmedizin.vi Für das Ziel eines hohen Gesundheitsschutzes war der Tiereinsatz bisher unverzichtbar und die ganz große Zahl der Tierversuche fand hier ihre Berechtigung.vii Dass in der Vergangenheit die Tierversuche zur Erreichung des Ziels eine große Rolle spielten, heißt aber nicht, dass nicht in Zukunft vermehrt oder sogar ausschließlich (tierversuchsfreie) Alternativmethoden zur Anwendung kommen können. Wenn das Ziel des Gesundheitsschutzes in gleichem Maße oder sogar besser mit (tierversuchsfreien) Alternativmethoden erreicht werden kann, dann muss es möglich sein, Tierversuche einzuschränken oder zu verbieten. Weder Tierversuche noch (tierversuchsfreie) Alternativmethoden sind Selbstzweck, sondern stehen im Dienste eines zu erreichenden Ziels.
Kritik an mangelhafter Umsetzung der EU-Tierschutzbestimmungen in deutsches Recht
Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes vom 4. Juli 2013 und der Tierschutz-Versuchstierverordnung wurde die Tierversuchsrichtlinie in deutsches Recht umgesetzt.viii Bei der Änderung wurde versucht, neben dem Tierschutz auch die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit und den Gesundheitsschutz ausreichend zu berücksichtigen. Allerdings sahen die Tierschützerinnen und Tierschützer schon in den Gesetzentwürfen der Bundesregierung ihre Forderungen nicht ausreichend berücksichtigt und mahnten an, dass die Tierversuchsrichtlinie konsequenter umgesetzt werden müsse. Daher beauftragten verschiedene Tierschutzorganisationen die Rechtswissenschaftlerin Anne Peters zu untersuchen, ob und gegebenenfalls inwiefern die vorgeschlagenen Änderungen gegen europäisches Recht verstoßen und geändert werden müssen.ix Darüber hinaus beauftragte nach der Verabschiedung des Gesetzes die Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die Grünen den Richter und Tierschutzjuristen Christoph Maisack mit einem Gutachten zur Frage, ob und gegebenenfalls welche Bestimmungen der Tierversuchsrichtlinie durch die Änderung des Tierschutzgesetzes und die Tierschutz-Versuchstierverordnung nicht oder nicht ausreichend in das deutsche Recht umgesetzt worden sind.
Christoph Maisack macht einleitend deutlich, dass eine Richtlinie zwar nicht wörtlich, aber ihrem Sinn nach umgesetzt werden müsse. Die Mitgliedstaaten seien verpflichtet, im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die vollständige Wirksamkeit der Richtlinie entsprechend ihrer Zielsetzung zu gewährleisten. Je detaillierter die Richtlinienregelung sei, umso stärker sei ihre Umsetzung vorgezeichnet. Die Änderung des Tierschutzgesetzes und die Tierschutz-Versuchstierverordnung kämen jedoch trotz ihres Anspruches der Hebung des Niveaus des Tierschutzes diesen Erfordernissen nur unzureichend nach. So sei insbesondere zu bemängeln:
– Tierversuche zur Aus-, Fort- und Weiterbildung hätten nicht aus dem normalen Genehmigungsverfahren herausgenommen und dem Anzeigeverfahren unterstellt werden dürfen, zumal das Anzeigeverfahren nicht den Anforderungen an ein vereinfachtes Verwaltungsverfahren genüge. So sehe das Anzeigeverfahren vor, dass ein Tierversuch begonnen werden kann, bevor eine Genehmigung vorliegt. Darüber hinaus sei zu bemängeln, dass keine rückblickende Bewertung des Tierversuches vorgesehen ist.
– Die in der Tierschutz-Versuchstierverordnung zugelassene Sammelanzeige mehrerer gleichartiger Versuchsvorhaben verstoße gegen die EU-Tierversuchsrichtlinie.
– Es erfolge keine ausreichende unabhängige Prüfung des Versuchsvorhabens.
– Die „Angst“ werde im deutschen Tierschutzgesetz und in der Tierschutz-Versuchstierverordnung als eigenständiger Belastungsfaktor nicht berücksichtigt.
– Es würden nur höchst unzureichend die Bestimmungen bezüglich der Kontrolle von Zucht, Lieferung und Durchführung der Tierversuche umgesetzt.
– Bei der Prüfung der Versuchsvorhaben werde an die Vermeidung ein strengerer Maßstab angelegt als an die Verminderung und Verbesserung.
– Schwerst belastende Tierversuche würden nicht auf Ausnahmefälle begrenzt.
– Der Tierschutzausschuss sei fehlerhaft besetzt und seine Aufgabe unzureichend beschrieben.
– Der Schutz von Tieren im vorgeburtlichen Entwicklungsstadium sei unzureichend.
– Es sei keine Änderung der Erlaubnis für den Fall vorgesehen, dass in einer erlaubnispflichtigen Tierversuchs-Einrichtung Änderungen erfolgen, die sich nachteilig auf das Wohlergehen der Tiere auswirken können.
– Die Angaben im Antrag auf Genehmigung eines Versuchsvorhabens seien unvollständig.
– In den nichttechnischen (= allgemeinverständlichen) Projektzusammenfassungen, die den Genehmigungsanträgen beizufügen sind, werde kein Nachweis über die Erfüllung der Anforderungen der Vermeidung, Verminderung und Verbesserung gefordert.
– Bei Verstößen gegen wesentliche Bestimmungen im Tierschutzgesetz und in der Tierschutz-Versuchstierverordnung seien unzureichende Sanktionen vorgesehen.x
i BT-Drs. 14/8860, 3.
ii Bei der Tierversuchsrichtlinie von 1986 handelt es sich um die Richtlinie des Rates 86/609/EWG zur Annäherung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, bei der Tierversuchsrichtlinie von 2010 um die Richtlinie 2010/63/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere. In letzterer Richtlinie wird in Erwägungsgrund 1 auf die Notwendigkeit der Harmonisierung des Binnenmarktes hingewiesen und in den Erwägungsgründen 6 und 11 auf die Notwendigkeit der Verbesserung des Schutzes der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere.
iii Matthias Cornils: Reform des europäischen Tierversuchsrechts. Zur Unions- und Verfassungsrechtmäßigkeit der Richtlinie 2010/63 des Europäischen Parlaments und des Rats zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (Studien zum internationalen, europäischen und deutschen Nachhaltigkeitsrecht 2), Münster 2011; Wolfgang Löwer: Tierversuchsrichtlinie und nationales Recht, Tübingen 2012. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war Matthias Cornils Professor für Medienrecht, Kulturrecht und Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Wolfgang Löwer Richter am Verfassungsgericht Nordrhein-Westfalen und Professor für Öffentliches Recht und Wissenschaftsrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
iv Die Verwendung von artengeschützten Tieren hat Art. 7, 2010/63/EU zum Thema, die Verwendung von nichtmenschlichen Primaten Art. 8 Abs. 1,2 und die Verwendung von Menschenaffen Art. 8 Abs. 3. Das Verbot besonders leidvoller Tierversuche findet sich in Art. 15 Abs. 2, die Ausnahmebestimmung in Art. 55 Abs. 3.
v Vgl. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/grundrechte-305/254011/besondere-merkmale-der-grundrechte/ und https://www.bmj.de/DE/rechtsstaat_kompakt/rechtsstaat_grundlagen/verhaeltnismaessigkeit/verhaeltnismaessigkeit_node.html (jeweils 02.12.2023).
vi Vgl. die Ad-hoc-Stellungnahme Tierversuche in der Forschung. Empfehlungen zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2010/63/EU in deutsches Recht von der Leopoldina -Nationale Akademie der Wissenschaften und der Union der deutschen Akademien, S. 5 (https://www.tierversuche-verstehen.de/wp-content/uploads/2016/08/2012-10-01_Stellungnahme_Tiervers.pdf; 19.05.2017).
vii Vgl. W. Löwer 2012, S. 35, der bemängelt, dass die Erwägungsgründe zur Tierversuchsrichtlinie den Zusammenhang nicht erkennen lassen.
viii Das am 13. Juli 2013 in Kraft getretene Gesetz wurde in BGBl. I S. 2182-2196 veröffentlicht.
ix Das Gutachten ist einsehbar unter https://www.aerzte-gegen-tierversuche.de/images/pdf/recht/gutachten_eu_richtlinie.pdf (02.12.2023).
x Die Kritikpunkte von Anne Peters ähneln weit gehend denen von Christoph Maisack.