Die Tieferlegung des Stuttgarter Bahnhofes, als „Stuttgart 21“ bezeichnet, gehörte zu den umstrittensten Bauvorhaben der Bundesrepublik. In ihrer Planungsphase wurde die Stuttgarter Bevölkerung punktuell einbezogen, was aber nicht verhinderte, dass sich zunehmend Widerstand regte. Schließlich standen sich zwei etwa gleich starke Lager von Befürwortern und Gegnern gegenüber. Als Ausweg aus der verfahrenen Lage wurde schließlich nach dem Regierungswechsel infolge der Landtagswahl am 27. März 2011 ein Volksentscheid in die Wege geleitet.

Der Volksentscheid samt Abstimmungsprozess wurde von der Bevölkerung mehrheitlich als positiv empfunden.i An ihm lässt sich exemplarisch aufzeigen, dass das Volk bei ausreichender und ausgewogener Information im Vorfeld des Volksentscheids durchaus zu einer fundierten Entscheidung kommen kann. Allerdings ist der Informationsprozess aufwändig. Es lässt sich aber auch aufzeigen, dass die Fragestellung eines Volksentscheides leicht verständlich sein muss. Auch muss ein Volksentscheid auf einer verbindlichen Grundlage (z. B. Kostenrahmen) und unter fairen Rahmenbedingungen erfolgen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass das Ergebnis des Volksentscheids angezweifelt und der politische Streit nicht befriedet wird.

Die Vorgeschichte

Gewöhnlich liegen die politischen Entscheidungen in Baden-Württemberg bei den gewählten Mandatsträgern. Warum ist es im Hinblick auf Stuttgart 21 zu einem Volksentscheid gekommen?

1994 wurden in einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit die Grundzüge der Planung vorgestellt. 1995 unterzeichneten die Vertragspartner einen Rahmenvertrag über die Durchführung des Projektes. Aber erst 2009 schlossen diese eine verbindliche Finanzierungsvereinbarung. In den knapp 15 Jahren zwischen der Unterzeichnung der Rahmenvereinbarung und dem Abschluss der Finanzierungsvereinbarung wurden zahlreiche Expertisen und Gutachten über die verkehrlichen und stadtplanerischen Aspekte von Stuttgart 21 erstellt. Auch die Öffentlichkeit wurde in die Projektplanung einbezogen: So gab es im Hinblick auf die städtebauliche Planung Beteiligungsverfahren, die jedoch gemessen an der Zahl der Teilnehmer auf eine nur begrenzte Resonanz stießen.

Dass es trotz der punktuellen Einbeziehung der Bevölkerung zu einem Volksentscheid kam,, ist mit der Verhärtung der Fronten zwischen Befürwortern und Gegnern des Projektes.zu erklären. Anfangs umfasste die Protestbewegung nur einen kleinen Personenkreis, dessen Aktivitäten in der Öffentlichkeit zunächst nur wenig Interesse und Unterstützung fanden. Spätestens mit der Veröffentlichung der Machbarkeitsstudie im Jahr 1995 ging die bis dahin nur von einer kleinen Minderheit getragenen Kritik an Stuttgart 21 jedoch zunehmend in eine öffentliche Auseinandersetzung über die Kosten, den Sinn und die Durchführbarkeit des Projektes sowie seine demokratische Legitimation über. Im Jahr 2002 gingen bei dem Stuttgarter Regierungspräsidium gegen den ersten Planabschnitt des Projektes über 2000 Einwendungen ein. Sie stammten unter anderem von Verbänden und Anwohnern, die insbesondere Lärm und Erschütterungen bei Bau und Betrieb des neuen Bahnhofs befürchteten.ii Im Laufe der Zeit kam es zur Bildung von zwei etwa gleich starken Lagern, die sich unversöhnlich gegenüber standen. Das Lager der Befürworter wurde seitens der Parteien vor allem von der CDU und FDP repräsentiert, das Lager der Gegner vor allem von Bündnis 90 / Die Grünen.

Im Jahr 2007 wurden 67.000 (erforderlich waren 61.000) Unterschriften für die Einleitung eines Volksbegehrens zum Ausstieg der Stadt Stuttgart aus dem Projekt gesammelt. Allerdings war die Zulässigkeit des Volksbegehrens umstritten, nicht zuletzt deshalb, weil der Gegenstand der Entscheidung keine Angelegenheit der gemeindlichen Selbstverwaltung darstellte. So lehnte dann auch der Stuttgarter Gemeinderat mit einer großen Mehrheit die Durchführung des Volksbegehrens ab.

Der Protest gegen Stuttgart 21 manifestierte sich in fulminanten Wahlerfolgen von Bündnis 90 / Die Grünen und in zahlreichen Demonstrationen, deren trauriger Höhepunkt der sogenannte „schwarze Donnerstag“ (30. September 2010) mit zahlreichen Verletzten war. Darüber hinaus trug das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 seinen Protest in das ganze Land Baden-Württemberg. Das Projekt Stuttgart 21 samt seiner Auseinandersetzungen erschien zunehmend als ein Vorhaben und Sreitthema von landesweitem Belang, zumal es Einfluss auf den Verkehr in ganz Baden-Württemberg hatte.

Spätestens nach dem „schwarzen Donnerstag“ war die Lage dermaßen verfahren, dass sich die Landesregierung nicht zuletzt angesichts der bevorstehenden Landtagswahl zu einer Faktenschlichtung entschloss. Diese wurde von dem CDU-Politiker Heiner Geißler moderiert und hatte das Ziel, alle Argumente für und wider Stuttgart 21 darzulegen, einen Austausch zwischen den kontroversen Positionen zu erreichen, auf diesem Wege die Öffentlichkeit breiter und detaillierter über das Vorhaben zu informieren und durch diese Maßnahmen die Debatte zu versachlichen. Die Faktenschlichtung stieß in der Öffentlichkeit auf große Resonanz und wurde weitgehend positiv bewertet. Weil aber die Polarisierung und die Verhärtung der Positionen weiter fortbestanden, brachte die SPD-Fraktion im baden-württembergischen Landtag den Antrag ein, einen Volksentscheid über Stuttgart 21 durchzuführen. Dieser wurde von der CDU-FDP-Mehrheit abgelehnt. Damit war Stuttgart 21 zu einem heißen Thema für die Landtagswahl geworden. Mit der Bildung einer grün-roten Koalition nach der Landtagswahl am 27. März 2011 waren dann die Voraussetzungen für den Volksentscheid über das Projekt gegeben und der Landtag von Baden-Württemberg leitete die ersten Verfahrensschritte ein.iii

Die rechtlichen Grundlagen und die Fragestellung des Volksentscheids

Die grün-rote Landesregierung brachte das so genannte S 21-Kündigungsgesetz in den Landtag ein. Mit dem Gesetz wurde die Landesregierung aufgefordert, von Kündigungsrechten bezüglich der vertraglich vereinbarten Mitfinanzierung des Landes an Stuttgart 21 Gebrauch zu machen. Der Landtag stimmte mehrheitlich dagegen. Nur Bündnis 90 / Die Grünen sprach sich geschlossen für einen Ausstieg aus Stuttgart 21 aus.

Nun wurde das Gesetz den Stimmberechtigten zur Abstimmung vorgelegt. So waren am 27. November 2011 die Stimmberechtigten des Landes Baden-Württemberg aufgerufen, die folgende Frage per Stimmkreuz mit Ja oder Nein zu beantworten: „Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ‚Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21‘ (S21-Kündigungsgesetz) zu?“.

Diese Fragestellung war verwirrend. Aus Sicht der Stimmberechtigten, die mit juristischen Raffinessen nicht vertraut waren, war es nämlich immer um die Frage „Bist du für oder gegen Stuttgart 21?“ gegangen. Also lag es nahe, dass diejenigen, die gegen Stuttgart 21 waren, mit „Nein“ stimmen mussten, und diejenigen, die für Stuttgart 21 waren, mit „Ja“. Bei der Volksabstimmung ging es aber um einen Ausstieg aus Stuttgart 21. Daher war ein umgekehrtes Abstimmungsverhalten gefordert. Wer gegen Stuttgart 21 (und damit für einen Ausstieg) war, musste „Ja“ ankreuzen, wer für Stuttgart 21 (und damit gegen einen Ausstieg) war, „Nein“.

Der Abstimmungskampf

Dementsprechend setzten sich die Gegner von Stuttgart 21 für ein „Ja zum Ausstieg“ ein, die Befürworter für ein „Nein zum Ausstieg“. Aus den Werbematerialien wie Plakaten, Aufklebern usw. ging hervor, wie das jeweils „richtige“ Abstimmungsverhalten auszusehen hatte. Bei aller Kritik an der Frageformulierung ist zu bedenken, dass sich die Bürger insbesondere der Stadt Stuttgart schon viele Jahre mit dem Projekt befasst hatten. Insofern war zu erwarten, dass sie mehrheitlich die Fragestellung richtig verstehen würde. Auch stieß der Abstimmungskampf auf vergleichsweise großes Interesse und die Stimmberechtigten hatten ausreichende Möglichkeiten, sich über das Projekt, den Werdegang der Abstimmung und über das Abstimmungsverhalten zu informieren. Auch die Landesregierung bemühte sich um die Reduzierung von Wissenslücken, indem sie in Millionenauflage an die Haushalte im Land eine Broschüre versandte, die u.a. einen Musterstimmzettel enthielt.

Außerdem enthielt die Broschüre eine Gegenüberstellung der Argumente für und gegen den Ausstieg. Seitens der Landesregierung war also ein Bemühen zu erkennen, ausgewogen über die verschiedenen Argumente zu informieren. Dieses Bemühen wurde durch die Tatsache erleichtert, dass beide Seiten durchaus ernst zu nehmende Argumente liefern konnten. Die Stimmberechtigten konnten sich also durchaus ausgewogen informieren. Auch wenn sie sich allein auf die Abstimmungskampagnen der beiden Lager hätten verlassen müssen, hätten sie kein völlig einseitiges Bild bekommen, weil beide Lager durchaus engagiert ihre Sicht der Dinge publik machten.iv

Das Abstimmungsergebnis

Die beiden Lager waren in etwa gleich stark, was einen spannenden Ausgang der Abstimmung erwarten ließ. Schon beim Eintrudeln der ersten Ergebnisse wurde jedoch deutlich, dass das Lager derjenigen, die einen Ausstieg des Landes aus Stuttgart 21 ablehnten, den Sieg davontragen würde. Das Endergebnis war dann wie folgt: 58,9 % der Abstimmenden stimmten gegen einen Ausstieg des Landes aus dem Projekt, 41,1 % für den Ausstieg. Die Beteiligung an der Volksabstimmung betrug 48,3 %.

Das Ergebnis war verbindlich. Maßgeblich dafür war die Mehrheit der Nein-Stimmen. Die Beteiligung an dem Volksentscheid war erfreulich hoch, was aber letztendlich keine Voraussetzung für die Gültigkeit des Ergebnisses war.

Bei einer Mehrheit der Ja-Stimmen hätte dagegen ein Quorum gegriffen. Demnach hätte ein Drittel aller Stimmberechtigten für einen Ausstieg stimmen müssen. Tatsächlich waren es knapp 20 %. Bei gleicher Wahlbeteiligung hätten sich knapp 70 % der Stimmberechtigten für einen Ausstieg aus Stuttgart 21 aussprechen müssen, damit es wirklich zu einem Ausstieg gekommen wäre.

Das erforderliche hohe Quorum an Ja-Stimmen wurde verschiedentlich als unfair angesehen. Es darf bezweifelt werden, dass bei einer Mehrheit der Ja-Stimmen und einem Nichterreichen des Quorums der Streit um Stuttgart 21 befriedet worden wäre. Die Gegner des Projektes hätten auf ihre Mehrheit verweisen und weiter die Legitimität der Durchführung des Projektes infrage stellen können.v

Die Akzeptanz des Abstimmungsergebnisses

Aufgrund des klaren Ergebnisses gegen einen Ausstieg aus Stuttgart 21 wurde weder von Seiten der Parteien noch von Seiten der Bevölkerung angezweifelt, dass nun der Bau des Tiefbahnhofes rechtens war. Auch wenn die Fragestellung verwirrend war, gab es keine Belege dafür, dass Verwirrung das Abstimmungsergebnis maßgeblich beeinflusst hatte.vi Der Volksentscheid samt dem Abstimmungsprozess wurde mehrheitlich positiv empfunden. Seitens der Parteianhänger gab es kaum Anlass, das Ergebnis als nicht maßgeblich zu betrachten. Die Anhänger von CDU und FDP sahen ihr Anliegen durchgesetzt. Seitens der SPD konnte man angesichts der eigenen Zerrissenheit froh sein, auf ein verbindliches Votum seitens der Bevölkerung verweisen und so die Partei befrieden zu können. Die Anhänger von Bündnis 90 / Die Grünen hätten noch am ehesten das Ergebnis infrage stellen können. Das taten sie aber nicht, weil es ja ihre eigene Partei gewesen war, die sich für den Volksentscheid eingesetzt hatte.vii

Weder Abstimmungsergebnis noch die verwirrende Fragestellung ließen also ernst zu nehmende Einwände an der Verbindlichkeit des Volksentscheides aufkommen. Zunehmende Zweifel an der Verbindlichkeit kamen erst auf, als die – von den Gegnern schon vorhergesehenen – Kostensteigerungen Schritt für Schritt immer gravierende Ausmaße annahmen. Bei dem Volksentscheid war von Kosten in Höhe von 4,5 Milliarden Euro ausgegangen worden. Im Jahr 2022 lagen die voraussichtlichen Kosten dann schon bei rund 9 Milliarden Euro, ohne dass das Ende der Fahnenstange schon sicher erreicht war.viii Angesichts der ständig steigenden Kosten zweifelten auch die Befürworter zunehmend daran, dass die Kosten den Nutzen rechtfertigen würden, zumal auch die Bewertung seitens der DB immer kritischer wurde. Dass es dennoch zu keinen Massendemonstrationen kam, lag daran, dass für eine Umkehr der Bau des Tiefbahnhofes zu fortgeschritten schien. Insofern bleibt bezüglich des Volksentscheides ein fader Nachgeschmack.

i Vgl. Oscar W. Gabriel, Harald Schoen, Kristina Faden-Kuhne, Der Volksentscheid über Stuttgart 21: Aufbruch zu neuen demokratischen Ufern?, Opladen – Berlin – Toronto 2014, 143-153; Thorsten Faas, Ergebnisse der Telefonbefragung der Studie Bürgerbeteiligung und Direkte

Demokratie in Baden-Württemberg (2012) (online); Thorsten Faas, Rüdiger Schmitt-Beck, Forschungsprojekt Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie in Baden-Württemberg. Ergebnisse der Telefonbefragung 2013 (online), die steigende Zustimmung zur Aussage „Volksabstimmungen sind ein gutes Mittel, um wichtige politische Fragen zu entscheiden“ feststellen.

ii Vgl. https://www.bauingenieur24.de/fachbeitraege/bauprojekte/ueber-2000-einwendungen-gegen-geplanten-tiefbahnhof-stuttgart-21/1038.htm (aufgerufen am 07.12.2022).

iii Ausführlich zur Vorgeschichte des Volksentscheids siehe Oscar W. Gabriel, Harald Schoen, Kristina Faden-Kuhne, Der Volksentscheid über Stuttgart 21: Aufbruch zu neuen demokratischen Ufern?, Opladen – Berlin – Toronto 2014, 23-33.

iv Ausführlich zum Interesse, zur Informiertheit, zu den Argumenten und zum Stimmverhalten siehe Oscar W. Gabriel, Harald Schoen, Kristina Faden-Kuhne, Der Volksentscheid über Stuttgart 21: Aufbruch zu neuen demokratischen Ufern?, Opladen – Berlin – Toronto 2014, 63-103.

v Ausführlich zum Ergebnis und zur Teilnahme am Volksentscheid siehe Oscar W. Gabriel, Harald Schoen, Kristina Faden-Kuhne, Der Volksentscheid über Stuttgart 21: Aufbruch zu neuen demokratischen Ufern?, Opladen – Berlin – Toronto 2014, 40-61.

vi Ausführlich dazu Harald Schoen, Nein zu „Stuttgart 21“, Ja beim Volksentscheid? Eine Analyse zu Frageformulierung und Stimmverhalten beim Volksentscheid über das „S 21-Kündigungsgesetz, in: S. I. Keil, S. I. Thaidigsmann (Hrsg.), Zivile Bürgergesellschaft und Demokratie, Wiesbaden 2013, 97-115.

vii Ausführlich zu den Bestimmungsfaktoren der Akzeptanzbereitschaft und Akzeptanz siehe Oscar W. Gabriel, Harald Schoen, Kristina Faden-Kuhne, Der Volksentscheid über Stuttgart 21: Aufbruch zu neuen demokratischen Ufern?, Opladen – Berlin – Toronto 2014, 129-142.

viii Vgl. https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/stuttgart-21-kosten-chronologie-100.html (aufgerufen am 30.03.2023).