Abgeordnete werden vom Wahlvolk gewählt und repräsentieren damit das (Wahl-)Volk bei ihren politischen Entscheidungen. Ihnen stehen hervorragende Möglichkeiten zur Verfügung, sich über politische Sachverhalte und über die Abstimmungsgegenstände zu informieren. Dennoch kann seitens der Bevölkerung aus verschiedenen Gründen Unmut über ausbleibende Beschlüsse oder falsche Beschlüsse aufkommen.
Regt sich in der Bevölkerung über Untätigkeit oder vermeintlich falsche Entscheidungen der Abgeordneten Unmut, dann kommen – sofern die Mittel existieren – auch in einer repräsentativen Demokratie direktdemokratische Verfahren zum Zuge. Die Bürger versuchen selbst mittels Bürger- oder Volksentscheid ein Anliegen zur Abstimmung zu stellen oder eine Parlamentsentscheidung einzukassieren. Das ist nachvollziehbar und kann Vorteile haben. Ein Bürger- oder Volksentscheid verläuft jedoch nicht unbedingt konstruktiv. Auch führt er nicht unbedingt zu einer besseren Entscheidung. Und es ist auch nicht gesagt, dass das Ergebnis anschließend auf breite Akzeptanz stößt. Vielmehr besteht die Gefahr, dass Konflikte eher zugespitzt als befriedet werden. Daher ist es nötig, neben repräsentativen und direktdemokratischen Elementen der Demokratie auch dialogorientierte zu berücksichtigen.
Die repräsentative Demokratie
Die repräsentative Demokratie ist die über viele Jahrzehnte eingeübte und legitimierte Demokratieform in Deutschland. Diejenigen Bürger, die als Abgeordnete in die Parlamente einziehen und dort stellvertretend für das (Wahl-)Volk die Entscheidungen treffen, werden mittels Wahlen bestimmt. Die Abgeordneten vertreten (= repräsentieren) also das (Wahl-)Volk. Das (Wahl-)Volk regiert nicht selbst, sondern lässt regieren.
Den Abgeordneten – insbesondere den Bundestagsabgeordneten – stehen hervorragende Möglichkeiten zur Verfügung, sich über politische Sachverhalte und über die Abstimmungsgegenstände zu informieren. Dennoch kann seitens der Bevölkerung Unmut über ausbleibende Beschlüsse oder falsche Beschlüsse aufkommen. Abgeordnete können bei ihren Entscheidungen eigene wirtschaftliche Interessen voranstellen, Lobbyisten zu großen Einfluss gewähren, parteiinternen Zwängen wie Koalitionszwang unterliegen oder sich aufgrund von Zeitdruck oder Desinteresse nur mangelhaft informieren. Auch gelingt es ihnen nicht immer, den Bürgern die Gründe für ihre Entscheidungen zu vermitteln.
Wahlen als Spiegelbild der Stimmung des (Wahl-)Volkes
In einer repräsentativen Demokratie tut das (Wahl-)Volk seine Zufriedenheit oder Unzufriedenheit an erster Stelle mittels der Wahlen kund. Ist ein Bürger unzufrieden, dann straft er die aus seiner Sicht verantwortliche Partei oder den aus seiner Sicht verantwortlichen Abgeordneten ab, indem er sie bzw. ihn nicht (mehr) wählt.
Dieses Verfahren ist jedoch nicht ganz unproblematisch. Die Wahlen finden in einem Abstand von mehreren Jahren statt. Bis also die Meinung mittels der Wahlentscheidung kundgetan werden kann, können einige Jahre ins Land ziehen. Hinzu kommt, dass bis zu den nächsten Wahlen eine Vielzahl von Abstimmungen stattgefunden hat, die verschiedenste Politikbereiche betreffen. Entweder ist bis zur nächsten Wahl das „Vergehen“ der Partei oder des Abgeordneten vergessen oder die Abstrafung erfolgt nur wegen des einen „Vergehens“, obwohl ansonsten das Abstimmungsverhalten der Partei oder des Abgeordneten keinen Grund zum Ärger gegeben hat. Daraus können eine zu negative Sicht der Dinge und Politik(er)verdrossenheit resultieren.
Direkter Einfluss auf Entscheidungen durch Bürger- und Volksentscheide
Bürger- und Volksentscheide geben den Bürgern eine viel unmittelbarere Möglichkeit an die Hand, den eigenen Willen kundzutun, indem sie selbst an einer Abstimmung teilnehmen dürfen. Das politische Engagement ist in einem begrenzten Rahmen zeitlich und thematisch auf eine Sache konzentriert. Durch die unmittelbare Einflussmöglichkeit sinkt das Bedürfnis, bei der nächsten Wahl eine Partei oder einen Abgeordneten abzustrafen.
Polarisierung
In der repräsentativen Demokratie versuchen sich die Parteien und Abgeordneten zu profilieren und dem (Wahl-)Volk gegenüber möglichst ansprechend zu präsentieren. In den Parlamenten prallen durchaus verschiedene Ansichten aufeinander, wobei die einzelnen Parteien möglichst geschlossen auftreten. Die Hauptkonfliktlinie verläuft dabei zwischen der Regierung und der Opposition. Das Bemühen um ein klares Profil und die Verdeutlichung der eigenen Existenzberechtigung und Notwendigkeit führen oftmals dazu, dass die eigene Politik beschönigt und über den grünen Klee gelobt wird, die Politik der Konkurrenz dagegen schlechtgeredet und angeprangert. Nur die Regierungsparteien bemühen sich um ein möglichst harmonisches Auftreten.
All dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im parlamentarischen Alltag keinesfalls vorrangig um Entweder – oder und Ja oder Nein geht. Vielmehr ist der parlamentarische Alltag von Verhandlungen und Kompromissen geprägt. Ohne Verhandlungen und Kompromisse ist weder die Bildung einer Regierung noch ihr Fortbestand möglich. Und viele Sachverhalte sind so komplex, dass sie sich nicht auf ein Entweder – oder und auf ein Ja oder Nein herunterbrechen lassen. Vielmehr geht es in hohem Maße um Detailarbeit. Die Verhandlungen, Kompromisse und Detailarbeit dienen letztendlich dem Zweck, Mehrheiten zu erzielen und die eigenen Anliegen in möglichst hohem Maße umgesetzt zu bekommen. Das ist auch im Hinblick auf die nächsten Wahlen nötig.
Bei Bürger- und Volksentscheiden besteht im Normalfall die Wahl zwischen Ja und Nein. Damit ist eine Polarisierung vorgegeben. An die Stelle des Wettbewerbes der Parteien untereinander tritt die Zuspitzung in der Bürgerschaft. Gewöhnlich führen die beiden Seiten ihre eigenen Veranstaltungen durch stehen bei Podiumsdiskussionen einander gegenüber. Jede der beiden Seiten versucht die Mehrheit der Bürger auf ihre Seite zu ziehen. Das Ergebnis der Abstimmung ist ein Für oder Gegen etwas. Es gibt eine Mehrheit, die Sieger, und eine Minderheit, die Verlierer. Es ist eine Entscheidung getroffen worden, aber die Konflikte bleiben möglicherweise weiter bestehen.i
Konfliktszenarien
Bei Konflikten gibt es verschiedene Konfliktparteien: Zum einen stehen sich die verschiedenen Sichtweisen der Abgeordneten gegenüber, im Groben aufgeteilt zwischen Gegnern und Befürwortern eines Anliegens. Der Abstimmungskampf führt auch in der Bevölkerung zur Lagerbildung. Selbst wenn ein Teil der Bürger unentschieden ist oder ein differenziertes Bild von der Angelegenheit hat, muss am Ende mit „Ja“ oder mit „Nein“ gestimmt werden. Zusätzlich zur Konfliktlinie zwischen den Abgeordneten kann sich auch eine Konfliktlinie zwischen Abgeordneten und Bürgern bilden, weil beide Seiten von je eigenen Voraussetzungen aus agieren und argumentieren. Der Horizont, auf dem sich Information und Meinungsbildung vollziehen, ist bei Abgeordneten anders als bei Bürgern außerhalb des parlamentarischen Betriebs. Eine weitere Konfliktpartei ist die Verwaltung, die zum einen mit ihrer Expertise Informationen bereitstellt, zum anderen aber auch Beschlüsse umsetzen muss. Auch sie hat ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge.
Es gibt zwei typische Konfliktszenarien: Das erste Konfliktszenario entsteht bei einem initiierenden Bürger- oder Volksentscheid. Bei diesem Konfliktszenario bringen Bürger mittels eines erfolgreichen Bürger- oder Volksbegehrens ein Anliegen zur Abstimmung, das die Parlamentsmehrheit für nicht abstimmungsreif oder zielführend hält. Stimmt die erforderliche Mehrheit der Bürger beim Entscheid für dieses Anliegen, müssen Politik und Verwaltung es umsetzen, auch wenn sie es für falsch halten. Eine Suche nach Kompromissen und Alternativen ist in diesem Prozess nicht vorgesehen. Die Folge kann eine schleppende und/oder unzureichende Umsetzung sein. Bei einer nicht ganz eindeutigen Abstimmungsfrage entsteht zudem um die Auslegung Streit.
Das zweite Konfliktszenario entsteht bei einem kassierenden Bürger- oder Volksentscheid. In diesem Fall trifft das Parlament eine Entscheidung, die per Bürgervotum einkassiert wird. Damit ist zwar ein nach Meinung der Mehrheit der Bürgerschaft falscher Beschluss vom Tisch, jedoch steht das Parlament wieder am Anfangspunkt der Planung. Darüber hinaus sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Handlungsunsicherheit und gegenseitiges Misstrauen gewachsen.ii
Dialogorientierte Elemente der Demokratie
Neben den repräsentativen und den direktdemokratischen Elementen gibt es auch dialogorientierte Elemente der Demokratie. Diese folgen eigenen Regeln: Entscheidend ist, dass sie nicht auf Konfrontation, sondern auf Dialog beruhen. Es geht also darum, durch gegenseitiges Zuhören und durch gegenseitigen Austausch zu einem größtmöglichen Konsens zu kommen. Der Dialog erfolgt ergebnisoffen. Die Ergebnisse sind nicht verbindlich, dienen aber als Orientierungspunkt. Die Bürger treten im Gegensatz zu direktdemokratischen Elementen der Demokratie nicht als Entscheider, sondern als Berater auf. Der Dialog kann auch einem Bürger- oder Volksentscheid vorangehen (Beispiel: Citizens’ Assembly in Irland).iii
In einer vielfältigen Demokratie haben repräsentative, direktdemokratische und dialogische Elemente ihren Raum. Sie haben jeweils Vor- und Nachteile. Es gilt, die verschiedenen Elemente an der richtigen Stelle einzusetzen und miteinander zu verzahnen.
i Roland Roth, Exit Plebiszit? Direkte Beteiligung auf Bundesebene: Mutmaßungen über eine Leerstelle, in: Stiftung Mitarbeit [Hrsg.], Direkte Demokratie. Chancen – Risiken – Herausforderungen (Beiträge zur Demokratieentwicklung von unten Nr. 29), 65-93 stellt die Argumente für und wider Volksentscheide gegenüber und kommt auch auf die Polarisierung zu sprechen. Im Hinblick auf Wege aus einer polarisierten Debatte nennt er eine Kombination von repräsentativen und direktdemokratischen Regelungen und dialogorientierte Praxis.
ii Vgl. Allianz Vielfältige Demokratie [Hrsg.], Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen, Gütersloh 2018, 8-9.
iii Zehn Punkte für ein erfolgreiches Zusammenwirken dialogischer und direktdemokratischer Verfahren finden sich in Allianz Vielfältige Demokratie [Hrsg.], Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen, Gütersloh 2018, 26-27.