Die Einführung bundesweiter Volksentscheide ist grundsätzlich möglich
In allen Bundesländern ist das Prinzip der direkten Demokratie als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie auf kommunaler und auf Landesebene verwirklicht. Die Kommunalordnungen bieten Bürgerbegehren und Bürgerentscheide und die Landesverfassungen Volksbegehren und Volksentscheide an. Insofern sind sie in Deutschland nichts Neues.
Das Grundgesetz sieht zwar Abstimmungen vor, allerdings nicht ausdrücklich bundesweite Volksentscheide. Dies liegt in der Sorge der Mütter und Väter des Grundgesetzes begründet, die SED und auch die KPD könnten die direkte Demokratie auf Bundesebene instrumentalisieren. Auch die Befürchtung, das Volk könne sich bei Reizthemen leicht instrumentalisieren lassen, ließ von der Verankerung bundesweiter Volksentscheide im Grundgesetz Abstand nehmen. Dem Gesetzgeber ist aber belassen, die rechtliche Grundlage für bundesweite Volksentscheide zu schaffen.
Direktdemokratische Verfahren fördern die lebendige Demokratie
Sofern bundesweite Volksentscheide zugelassen werden, müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden. Es muss geklärt werden, welche Art Volksentscheide zugelassen werden sollen. Infrage kommen direktdemokratische Verfahren und obrigkeitlich ausgelöste Verfahren. Zu den direktdemokratischen Verfahren gehören die Volksinitiative, das fakultative Referendum und das obligatorische Referendum. Mit ihnen hat insbesondere die Schweiz viel Erfahrung. Frankreich dagegen gilt als Musterland für obrigkeitlich ausgelöste Verfahren. Bei letzteren – dies hat insbesondere der Brexit gezeigt – besteht allerdings die Gefahr, dass Personal- und Sachfragen miteinander vermengt werden. Auch tragen die direktdemokratischen Verfahren eher zu einer lebendigen Demokratie bei, weil aus dem Volk heraus drängende Anliegen auf die Tagesordnung gebracht werden können.
Volksentscheide führen zu einer Stärkung außerparlamentarischer Opposition
Für das parlamentarische System ist das Gegenüber von Regierung und Opposition typisch. Die Opposition wird durch die im Parlament vertretenen Nicht-Regierungsparteien ausgeübt. Auch Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind, können Oppositionsarbeit leisten, wobei in diesem Fall von einer „außerparlamentarischen Opposition“ gesprochen wird.
Zu Volksbegehren und Volksentscheiden kommt es nur bei Unzufriedenheit mit der parlamentarischen Arbeit. Im parlamentarischen System wird die Unzufriedenheit bei Wahlen kundgetan, aus denen Parteien der parlamentarischen oder außerparlamentarischen Opposition gestärkt hervorgehen können. Volksbegehren und Volksentscheide verlagern die Opposition aus den Parlamenten heraus. Zur Vermeidung von Volksbegehren und Volksentscheiden müsste verstärkt der „Volkswille“ beachtet werden. Das gilt in erster Linie für die Regierung, aber auch für die Opposition. Dabei sind zwei Szenarien möglich: Entweder machen sich Parteien – insbesondere die Oppositionsparteien – Volksbegehren und Volksentscheide zur Durchsetzung der eigenen Ziele und zur eigenen Stärkung zunutze, auch wenn dies den gesellschaftlichen Frieden gefährdet. Oder das politische System entwickelt sich, der Schweiz entsprechend, zu einer Konsensdemokratie. Statt auf ein Gegenüber von Regierung und Opposition wird dann auf einträchtige Zusammenarbeit gesetzt, damit die Gesetzgebung auf möglichst breiter Zustimmung beruht und so möglichst kein Anlass für Volksbegehren und Volksentscheide gegeben wird.
Volksgesetzgebung wirft gewichtige Verfassungsfragen auf
Wenn Volksgesetzgebung (= Volksinitiativen) zugelassen wird, müssen verschiedene verfassungsrechtliche Aspekte bedacht werden. Die Volksgesetzgebung muss so gestaltet werden, dass sie mit den bereits bestehenden Institutionen der Gesetzgebung (Legislative) und Rechtsprechung (Judikative) kompatibel ist. Es sind also im Hinblick auf den Bundestag, auf das Bundesverfassungsgericht und auch auf den Bundesrat als Ländervertretung gewichtige Verfassungsfragen zu klären. Dazu gehört auch die Frage, ob Abstimmungen nur über Grundgesetzänderungen, nur über einfache Gesetze oder über Grundgesetzänderungen und einfache Gesetze zulässig sein sollen. Und schließlich ist auch zu klären, ob es Ausschlussgegenstände geben soll. Wenn das Volk als Souverän gesehen wird, kann es bei konsequenter Deutung keine Ausschlussgegenstände geben. Allerdings können solche erforderlich sein, wenn Abstimmungsgegenstände zu komplex oder zu weitreichend sind oder gegen Menschenrechte oder Völkerrecht verstoßen.
Die Länder haben deutlich geringere Befugnisse als der Bund. Wenn bundesweite Volksentscheide zugelassen werden, liegt es nahe, dass auch Volksentscheide über weitreichendere und komplexere Gegenstände erfolgen. Insofern kann aus einem Funktionieren von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Landesebene nicht ohne Weiteres auf ein Funktionieren von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene geschlossen werden.
Die verfassungsrechtlichen Fragen betreffen in erster Linie die Volksgesetzgebung, nicht direktdemokratische Verfahren an sich. Insofern könnten bestimmte direktdemokratische Verfahren wie das obligatorische Verfassungsreferendum zugelassen werden, ohne dass zugleich Volksgesetzgebung ermöglicht werden müsste. Weil nicht alle verfassungsrechtlichen Fragen in ihrer Komplexität von den Bürgern durchschaut werden können, könnten Volksentscheide auf Kernbestandteile der Verfassung begrenzt werden. Volksinitiativen könnten unverbindlich gestaltet werden. Mit der Initiative würde der Bundestag aufgefordert, ein bestimmtes Thema auf die Tagesordnung zu setzen und zu beraten. Das wäre dann keine Volksgesetzgebung, sondern eine deutlich schwächere Form direkter Demokratie. Diese hätte aber auf das Verfassungsrecht die geringsten Auswirkungen und wäre somit am ehesten umsetzbar.
Volksbegehren und Volksentscheide erfordern klare und faire Rahmenbedingungen
Volksbegehren und Volksentscheiden müssen klare und faire Rahmenbedingungen zugrunde liegen. Der Abstimmungsgegenstand und die Abstimmungsfrage müssen klar sein. Die Zulassungsbedingungen müssen so beschaffen sein, dass Volksbegehren nicht übermäßig erschwert werden. Andererseits darf es auch nicht zu einer zu hohen Zahl Volksentscheide kommen. Denn eins sollte klar sein: Volksentscheide können die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Und richtig durchgeführt können sie die repräsentative Demokratie beleben.
Konstruktive gesellschaftliche Diskussion nötig
Bei unbedacht durchgeführten Volksentscheiden besteht die Gefahr von Populismus und Polarisierung, von Streit und Spaltung. Deswegen sind bei der Durchführung Regeln zu beachten. Volksentscheide sind nicht allein dazu gedacht, dass das Volk zu einer vorgegebenen Frage Ja oder Nein sagt. Vielmehr soll die Abstimmung den Abschluss einer konstruktiven gesellschaftlichen Diskussion darstellen. Dazu ist es förderlich, dass die Abstimmung aus der Gesellschaft erwächst, dass sie von „unten“ gefordert und erarbeitet wird. Eine konstruktive gesellschaftliche Diskussion will jedoch gelernt und eingeübt sein.
Auch müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Beispielsweise ist eine neutrale Abstimmungsbroschüre nach Schweizer Vorbild erforderlich, in der die wesentlichen Pro- und Contra-Argumente in gleicher Länge einander gegenübergestellt werden.
Dem Dialog kommt große Bedeutung zu
Der Volksentscheid sollte bei der Lösung politischer Konflikte nicht das Mittel der ersten Wahl sein. Bevor er bei Unzufriedenheit über (ausbleibende) parlamentarische Entscheidungen zum Zuge kommt, sollte erst der Dialog gesucht werden. Es gibt im Zusammenspiel mit der repräsentativen und direkten Demokratie verschiedene dialogische Modelle. Stets bezieht der Dialog alle Beteiligten ein und zielt auf eine einvernehmliche Lösung ab.