Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1993 bestätigt – bei etwas stärkerer Betonung des Strafrechtes – in 17 Leitsätzen im Wesentlichen sein Urteil von 1975. Laut dem Urteil von 1975 hat die Schwangere zwar Rechte, darf diese aber nicht zu Lasten des Ungeborenen durchsetzen. Die Rechte der Frau finden in den Rechten der Ungeborenen ihre Grenze. Der Staat ist gefordert, den Lebensschutz der Ungeborenen durchzusetzen, ist dabei aber nicht auf das Strafrecht festgelegt. Die Schwangere ist dem Grundsatz nach zur Austragung des Kindes verpflichtet. Bei unzumutbaren Belastungen der Schwangeren, zu denen insbesondere die Gefährdung ihrer Gesundheit gehört, steht ihr aber der Abbruch der Schwangerschaft offen. Eine Fristenlösung, bei der innerhalb einer bestimmten Frist der Schwangerschaftsabbruch erlaubt ist, ist nicht zulässig. Insofern ist eine gänzliche Legalisierung der Abtreibung verfassungswidrig. Sie verstößt gegen die Rechte der Ungeborenen.

In zwei Minderheitenvotum formulierten jedoch einige Richter ihre Kritik an dem Urteil. Die Richter Vizepräsident Mahrenholz und Sommer betonten in ihrem Minderheitenvotum, dass die Frauen in dem ganz persönlichen Schwangerschaftskonflikt verantwortlich und gewissenhaft selbst entscheiden sollten, sofern sie vorher eine Beratung aufgesucht haben. Der Richter Böckenförde kritisierte den Ausschluss von Sozialversicherungsleistungen für nicht indizierte Schwangerschaftsabbrüche. Über einen möglichen Ausschluss zu befinden, sei Sache des Gesetzgebers.

Der Staat ist verpflichtet, auch das ungeborene menschliche Leben zu schützen

1. „Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Diese Schutzpflicht hat ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt. Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu. Die Rechtsordnung muß die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleisten. Dieses Lebensrecht wird nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet.“

Die Schutzpflicht bezieht sich auf das einzelne Leben

2. „Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist bezogen auf das einzelne Leben, nicht nur auf menschliches Leben allgemein.“

Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter

3. „Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter. Ein solcher Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen. Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes sind zwei untrennbar verbundene Elemente des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes.“

Der Schwangerschaftsabbruch ist grundsätzlich rechtswidrig

4. „Der Schwangerschaftsabbruch muß für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlich verboten sein (Bestätigung von BVerfGE 39, 1 [44]). Das Lebensrecht des Ungeborenen darf nicht, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, der freien, rechtlich nicht gebundenen Entscheidung eines Dritten, und sei es selbst der Mutter, überantwortet werden.“

Mit dem Schutz der Ungeborenen kollidieren Rechte der Frau

5. „Die Reichweite der Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben ist im Blick auf die Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des zu schützenden Rechtsguts einerseits und damit kollidierender Rechtsgüter andererseits zu bestimmen. Als vom Lebensrecht des Ungeborenen berührte Rechtsgüter kommen dabei – ausgehend vom Anspruch der schwangeren Frau auf Schutz und Achtung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) – vor allem ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) in Betracht. Dagegen kann die Frau für die mit dem Schwangerschaftsabbruch einhergehende Tötung des Ungeborenen nicht eine grundrechtlich in Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition in Anspruch nehmen.“

Der Staat muss Maßnahmen zum angemessenen und wirksamen Schutz der Ungeborenen ergreifen

6. „Der Staat muß zur Erfüllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art ergreifen, die dazu führen, daß ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird (Untermaßverbot). Dazu bedarf es eines Schutzkonzepts, das Elemente des präventiven wie des repressiven Schutzes miteinander verbindet.“

Die Rechtspflicht zum Austragen des Kindes kann in Ausnahmefällen aufgehoben werden

7. „Grundrechte der Frau tragen nicht so weit, daß die Rechtspflicht zum Austragen des Kindes – auch nur für eine bestimmte Zeit – generell aufgehoben wäre. Die Grundrechtspositionen der Frau führen allerdings dazu, daß es in Ausnahmelagen zulässig, in manchen dieser Fälle womöglich geboten ist, eine solche Rechtspflicht nicht aufzuerlegen. Es ist Sache des Gesetzgebers, solche Ausnahmetatbestände im einzelnen nach dem Kriterium der Unzumutbarkeit zu bestimmen. Dafür müssen Belastungen gegeben sein, die ein solches Maß an Aufopferung eigener Lebenswerte verlangen, daß dies von der Frau nicht erwartet werden kann (Bestätigung von BVerfGE 39, 1 [48 ff.]).“

Auf das Strafrecht kann nicht frei verzichtet werden

8. „Das Untermaßverbot läßt es nicht zu, auf den Einsatz auch des Strafrechts und die davon ausgehende Schutzwirkung für das menschliche Leben frei zu verzichten.“

Der Schutz des ungeborenen Kindes ist auch vor Gefahren seitens der Mutter und ihrer Lebenswelt sicherzustellen

9. „Die staatliche Schutzpflicht umfaßt auch den Schutz vor Gefahren, die für das ungeborene menschliche Leben von Einflüssen aus dem familiären oder weiteren sozialen Umfeld der Schwangeren oder von gegenwärtigen und absehbaren realen Lebensverhältnissen der Frau und der Familie ausgehen und der Bereitschaft zum Austragen des Kindes entgegenwirken.“

Der Schutzanspruch des ungeborenen Lebens ist zu erhalten und zu beleben

10. „Der Schutzauftrag verpflichtet den Staat ferner, den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewußtsein zu erhalten und zu beleben.“

Das Schutzkonzept kann den Schwerpunkt auf die Beratung der schwangeren Frau legen

11. „Dem Gesetzgeber ist es verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht verwehrt, zu einem Konzept für den Schutz des ungeborenen Lebens überzugehen, das in der Frühphase der Schwangerschaft in Schwangerschaftskonflikten den Schwerpunkt auf die Beratung der schwangeren Frau legt, um sie für das Austragen des Kindes zu gewinnen, und dabei auf eine indikationsbestimmte Strafdrohung und die Feststellung von Indikationstatbeständen durch einen Dritten verzichtet.“

Es sind für das Beratungskonzept geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen

12. „Ein solches Beratungskonzept erfordert Rahmenbedingungen, die positive Voraussetzungen für ein Handeln der Frau zugunsten des ungeborenen Lebens schaffen. Der Staat trägt für die Durchführung des Beratungsverfahrens die volle Verantwortung.“

Ärztliche Beteiligung im Interesse der Frau soll auch dem Schutz ungeborenen Lebens dienen

13. „Die staatliche Schutzpflicht erfordert es, daß die im Interesse der Frau notwendige Beteiligung des Arztes zugleich Schutz für das ungeborene Leben bewirkt.“

Unterhaltspflicht für das Kind ist kein Schaden

14. „Eine rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes als Schadensquelle kommt von Verfassungs wegen (Art. 1 Abs. 1 GG) nicht in Betracht. Deshalb verbietet es sich, die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden zu begreifen.“

Auch ein Schwangerschaftsabbruch nach einer Beratung ist rechtswidrig, bleibt aber straffrei

15. „Schwangerschaftsabbrüche, die ohne Feststellung einer Indikation nach der Beratungsregelung vorgenommen werden, dürfen nicht für gerechtfertigt (nicht rechtswidrig) erklärt werden. Es entspricht unverzichtbaren rechtsstaatlichen Grundsätzen, daß einem Ausnahmetatbestand rechtfertigende Wirkung nur dann zukommen kann, wenn das Vorliegen seiner Voraussetzungen unter staatlicher Verantwortung festgestellt werden muß.“

Keine Ansprüche auf Sozialleistungen bei unrechtmäßigen Schwangerschaftsabbrüchen

16. „Das Grundgesetz läßt es nicht zu, für die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs, dessen Rechtmäßigkeit nicht festgestellt wird, einen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähren. Die Gewährung von Sozialhilfe für nicht mit Strafe bedrohte Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsregelung in Fällen wirtschaftlicher Bedürftigkeit ist demgegenüber ebensowenig verfassungsrechtlich zu beanstanden wie die Fortzahlung des Arbeitsentgelts.“

Bei Einzelregelungen haben die Länder die Organisationsgewalt

17. „Der Grundsatz der Organisationsgewalt der Länder gilt uneingeschränkt, wenn eine bundesgesetzliche Regelung lediglich eine von den Ländern zu erfüllende Staatsaufgabe vorsieht, nicht jedoch Einzelregelungen trifft, die behördlich-administrativ vollzogen werden könnten.“

Abweichende Meinung der Richter Vizepräsident Mahrenholz und Sommer

Die beiden Richter Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz und Bertold Sommer vertraten die Ansicht, dass die Meinungsmehrheit verkenne, dass es stets Frauen seien, welche die Konsequenzen zu tragen hätten, wenn Sexualität und Kinderwunsch wie so oft nicht übereinstimmten. Der Embryo und die Schwangere bildeten eine „Zweiheit in Einheit“. Dabei sei – entgegen dem Urteil der Mehrheit – die Zuordnung von Embryo und Frau nicht von bloßer Gegenüberstellung bestimmt, sondern von der Verantwortung der Frau für das andere Leben, weil sie dieses Leben in sich trage. Damit werde nicht ausgeklammert, dass der Frau dieses andere Leben mit eigener menschlicher Würde auch „gegenübersteht“. Die „Zweiheit in Einheit“ unterliege mit fortschreitender Schwangerschaft Veränderungen, nämlich zu einer verstärkten Zweiheit hin. Die Grundrechtsposition der Frau und die Rolle des Staates in der Wahrnehmung seiner Schutzpflicht seien in der Frühphase anders zu beurteilen als im fortgeschrittenen Stadium. Frauen – ausgehend von ihrer natürlichen Schutzbereitschaft für das in ihnen heranwachsende ungeborene Leben – würden ihre Schwangerschaftskonflikte als Not empfinden und in dieser Situation verantwortlich und gewissenhaft handeln wollen. Sie erlebten ihren Konflikt als höchstpersönlichen und wehrten sich deshalb gegen dessen Beurteilung nach einem von dritter Seite an sie herangetragenen Maßstab der Zumutbarkeit. Deshalb komme der Frau in der Frühphase das Recht zu, verantwortlich über einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden, sofern sie vorher eine Beratung aufgesucht hat.

Abweichende Meinung des Richters Böckenförde

Der Richter Ernst-Wolfgang Böckenförde stimmte den wesentlichen maßstäblichen Ausführungen des Urteils zu. Dazu gehörte insbesondere auch die Aussage, dass nicht indizierte (= nicht aufgrund einer Indikation erfolgte) Schwangerschaftsabbrüche, die in den ersten zwölf Wochen nach Beratung von einem Arzt vorgenommenen wurden, nicht als erlaubt angesehen werden können. Er vermochte jedoch den Ausführungen des Urteils, wonach die Verfassung Sozialversicherungsleistungen für solche Abbrüche ausschließe, nicht zuzustimmen. Hierüber zu befinden, sei Sache des Gesetzgebers.i

i Der Wortlaut des Urteils des Bundesverfassungsgerichts samt den abweichenden Meinungen ist unter https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv088203.html aufrufbar (aufgerufen am 21.01.2022).