Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen beiden Urteilen von 1975 und 1993 geurteilt, dass auch dem ungeborenen Kind Menschenwürde und Lebensrecht zukommen. Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums bestehe nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis vom 14. Tage nach der Empfängnis, also vom Abschluss der Einnistung (Nidation, Individuation) an.

Die beiden Urteile sind verbindlich, können aber hinterfragt werden. Dafür ist es notwendig, sich mit der Entwicklung des Ungeborenen zu befassen. Es zeigt sich, dass auch das Ungeborene als Mensch anzusehen ist und ihm somit Menschenwürde und Lebensrecht zustehen. Allerdings ist nicht klar, wann das Menschsein beginnt. Das Ungeborene entwickelt sich zwar kontinuierlich ohne scharfe Einschnitte, aber es sind verschiedene Phasen und Zäsuren auszumachen.

Schwangerschaftswoche und Entwicklungswoche

Wenn wir vor der Entwicklung des Ungeborenen sprechen, dann benutzen wir im Folgenden die Begriffe „Entwicklungstag“ und „Entwicklungswoche“. Die Entwicklung des ungeborenen Kindes beginnt mit der Befruchtung/Empfängnis.

Der Begriff „Schwangerschaftswoche“ bezieht sich dagegen auf den Beginn der Schwangerschaft. Dieser wird von den Ärzten gemeinhin auf den ersten Tag nach der letzten Regelblutung, die etwa zwei Wochen vor der Befruchtung/Empfängnis liegt, datiert.

Rechtlich gesehen beginnt die Schwangerschaft der Frau erst mit der Einnistung des Ungeborenen in die Gebärmutterschleimhaut. Erst von diesem Zeitpunkt an wird die Abtötung des Ungeborenen als Schwangerschaftsabbruch angesehen.

Die Zygote

Bei der Befruchtung trifft die (schnellste) Samenzelle auf das Ei. Der Eizellkern und Samenzellkern verschmelzen miteinander, und damit ist die Befruchtung abgeschlossen. Dem aktiven Vorgang des Eindringens einer Samenzelle entspricht der passive Vorgang, dass eine Eizelle eine Samenzelle empfängt. Daher wird die Befruchtung auch Empfängnis genannt. Das Ergebnis der Befruchtung bzw. Empfängnis ist die befruchtete Eizelle, die Zygote.

Die Blastozyste

Etwa 30 Stunden nach der Befruchtung beginnt die Weiterentwicklung der Zygote. Diese teilt sich nun, womit es zur Vermehrung der Zellen kommt. Die Zygote wird durch den Eileiter transportiert. Nach etwa 72 Stunden ist ein geordneter Zellhaufen entstanden, der einer Brombeere („Maulbeere“) ähnelt. Daher die lateinische Bezeichnung „Morula“, die „Maulbeere“ bedeutet. Aus diesem geordneten Zellhaufen entwickelt sich um den 5. Tag nach der Befruchtung eine flüssigkeitsgefüllte Blase, die Blastozyste. Dieser Begriff verbindet zwei altgriechische Wörter miteinander, nämlich „blastê“, was „Keim“ oder „Spross“ bedeutet, und „kystis“, was „Blase“ bedeutet. „Blastozyste“ bedeutet also „Keimblase“. In der Blastozyste findet eine erste Differenzierung statt: Zum einen entsteht eine äußere Zellschicht, der Trophoblast. Zum anderen entsteht die Keimblase, die Blastozystenhöhle, die zellfrei ist. Und schließlich entsteht auch eine innere Zellmasse, der Embryoblast. Die Blastozyste wird nun immer größer und „schlüpft“ aus der „Zona pellucida“ genannten Hülle, die die Eizelle umgeben hat. Sie wandert bis zur Gebärmutter, an deren Schleimhaut sie mit der äußeren Zellschicht andockt. Damit beginnt der erste Schritt der Einnistung und für die Frau die Schwangerschaft.

Aus der äußeren Zellschicht (Trophoblast) wird sich in den nächsten Wochen der Mutterkuchen samt Eihaut (Amnion) entwickeln. Er ist für die Versorgung bzw. den Schutz des Embryos zuständig. Aus der inneren Zellmasse wächst der Embryo heran, der innerhalb von neun Monaten ein vollständiger Mensch wird. Sämtliche Merkmale dieses Menschen, wie z. B. das Geschlecht, die Augen- oder Haarfarbe oder die endgültige Körpergröße, sind bereits in der Blastozyste festgelegt.

Der Embryo

Der Mutterkuchen (Plazenta), gräbt sich tief in die Gebärmutterwand ein. Diesen Vorgang nennt man „Einnistung“ (oder „Nidation“, vom lateinischen Begriff „nidus“ = „Nest“). Aus ihm erhält der Embryo während der gesamten Schwangerschaft Nahrung und Sauerstoff. Außerdem werden über ihn die Abfallstoffe aus dem Kreislauf des Embryos entsorgt. Aus dem anderen Teil der Zellmasse entwickelt sich der Embryo (vom griechischen Begriff „embryon“ = „ungeborene Leibesfrucht“; der Embryo wird auch als „Keimling“ bezeichnet). Dabei handelt es sich um ein Lebewesen bzw. um einen Menschen in einem sehr frühen Entwicklungsstadium.

Unterschiedlich wird die Frage beantwortet, ab welchem Zeitpunkt das Ungeborene als ein Embryo anzusehen ist. Das Embryonenschutzgesetz sieht gemäß § 8 Abs. 1 als Embryo bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung als Embryo an. Ihr gebührt demnach schon Schutz. Auch der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an als menschlicher Embryo anzusehen ist.i Andere sehen das Ungeborene erst ab der „Einnistung“ („Nidation“) in die Gebärmutterwand als Embryo an.

Die Frühentwicklung des Embryos

Die innere Zellmasse der Blastozyste, der Embryoblast, differenziert sich in verschiedene Zellschichten aus, die „Keimblätter“ genannt werden. Ab dem 8. Tag bildet sich die nahezu kreisrunde zweiblättrige Keimscheibe. Das embryonale Gewebe, das sich noch verformt, wird „Epiblast“ genannt, das extraembryonale Gewebe „Hypoblast“. Außerdem entstehen die Amnionhöhle, die den Embryo als schützende Hülle umschließt, und der (primäre und sekundäre) Dottersack, der bis zur vollständigen Ausbildung des Mutterkuchens den Embryo mit Nährstoffen versorgt. Die Amnionhöhle wird von der Chorionhöhle umgeben, die langsamer wächst als die Amnionhöhle und schließlich zu Beginn des 3. Schwangerschaftsmonats mit dieser verschmilzt.

Die Amnionhöhle, die Fruchtblase, enthält das Fruchtwasser. Das Fruchtwasser ist eine klare, wässrige Körperflüssigkeit, in der das Ungeborene schwimmt. Sie enthält wichtige Nährstoffe und spielt somit eine wichtige Rolle für Wachstum und Entwicklung des Ungeborenen. Im Fruchtwasser kann sich das Ungeborene ungehindert entwickeln. Es wirkt wie ein Stoßdämpfer: Die Bewegungen der Mutter und äußere Gewalteinwirkungen wie Stöße werden gedämpft, aber auch die Bewegungen des Ungeborenen. Das Fruchtwasser sorgt für eine weitgehend stabile Umgebungstemperatur des Ungeborenen und verhindert das Eindringen von Keimen und dadurch die Entstehung von Infektionen.ii

In der 3. Woche kommt es zur Gastrulation (vom griechischen Begriff „gastêr“ = „Magen/Mutterleib“). Auf der zweiblättrigen Keimscheibe bildet sich am 14. Tag vorübergehend ein Wulst aus Zellen, der “Primitivstreifen“ genannt wird. Von diesem gehen Zellvermehrungen und -wanderungen aus. Diese führen dazu, dass sich das embryonale Gewebe in eine dreiblättrige Keimscheibe umwandelt. Die drei Keimblätter werden „Mesoderm“, „Endoderm“ und „Ektoderm“ genannt. Aus ihnen gehen alle Gewebe des Embryos hervor. Das formgebende extraembryonale Gewebe entwickelt sich später wieder vollständig zurück.

Die Bildung des Primitivstreifens stellt eine Zäsur dar. Von nun an entwickelt sich der Embryo zweifellos als Individuum und es ist ihm unmöglich, sich zu einem Zwilling zu teilen. Das bedeutet aber auch, dass infrage gestellt werden kann, dass der Embryo vor dem 14. Tag uneingeschränkt schutzwürdig ist. In manchen Ländern ist daher bis zum 14. Tag „verbrauchende Embryonenforschung“ erlaubt.

Als eine Zäsur kann man auch die beginnende Entwicklung des Zentralnervensystems, zu dem Gehirn und Rückenmark gehören, ansehen. Das Zentralnervensystem erfüllt wichtige Aufgaben wie das Steuern von Bewegungen, das Verarbeiten von Sinneseindrücken und das Koordinieren der Verdauung. All dies ist für das Leben des Menschen unabdingbar. Zudem kann das Ungeborene Schmerz empfinden, sobald das Zentralnervensystem ausgebildet ist. Der früheste Zeitpunkt der Schmerzempfindung lässt sich aber nur schwer bestimmen, weil sich Reaktionen des Ungeborenen auf Berührungen nur schwer von Reaktionen aufgrund von Schmerz unterscheiden lassen.

Die Entwicklung der Organe

Von der 4. bis zur 8. Entwicklungswoche entstehen die Organe. War der Embryo bisher ein winziger, weniger als ein Millimeter messender Zellhaufen, so nimmt er allmählich zunächst die Gestalt einer kleinen Bohne, dann einer Kaulquappe und schließlich eines Menschen an. Seine Größe nimmt deutlich zu: Misst er zu Beginn der 4. Woche etwa 4 Millimeter, so sind es am Ende der 8. Woche bereits knapp 50 Millimeter.

Als erstes beginnt in der 5. Woche das Herz zu schlagen und das Herzkreislauf-System nimmt seine Arbeit auf. Der Kopf und der Rumpf werden angelegt und es bilden sich nach und nach die verschiedenen Organe aus. Da sich Gewebe und Organe in der 4. bis 8. Woche rasch differenzieren, können schwere Fehlbildungen entstehen, wenn der Embryo in dieser Zeit schädigenden Einflüssen wie Viren oder Medikamenten ausgesetzt ist.

In den ersten drei Wochen war der Embryo so klein, dass er seine Nährstoffe über den Mutterkuchen direkt aus dem mütterlichen Gewebe beziehen konnte. Mit zunehmender Größe steigt jedoch sein Nahrungsbedarf. Ab der 4. Woche entwickelt sich daher der Haftstiel zu einer Nabelschnur. Diese verbindet bald darauf den Blutkreislauf des Kindes mit dem der Mutter. Anfangs misst sie nur wenige Millimeter, doch am Ende der Schwangerschaft erreicht sie eine Länge von 50-60 Zentimetern und eine Dicke von knapp zwei Zentimetern. Die Nabelschnur wird von dem Fruchtwasser geschützt.iii

Der Fötus (Fetus)

Von der 9. Entwicklungswoche an wird das Ungeborene als „Fötus“ („Fetus“; der lateinische Begriff „fetus“ bedeutet „Nachkommenschaft/Brut“) bezeichnet. Der Namenswechsel markiert aber keinen abrupten Übergang, sondern macht deutlich, dass nun alle wesentlichen Organe angelegt sind und sich der Embryo erkennbar zu einem menschlichen Wesen entwickelt hat. Die Gewebe, Organe und Organsysteme differenzieren sich nun weiter aus. Dazu gehört auch die Ausbildung der äußeren Genitalien, die mit der Bildung von Urin einhergeht, das in das Fruchtwasser ausgeschieden wird. Eine bemerkenswerte Änderung in der bis zur Geburt dauernden Fetalperiode stellt die Verlangsamung des Kopfwachstums im Vergleich zum Körperwachstums dar. Misst der Fötus zu Beginn der 9. Woche etwa 5 Zentimeter, so sind es kurz vor der Geburt in der 38. Woche 36 Zentimeter.

Nach zwölf Wochen verhält sich der Fötus auf individuelle Art und Weise. Dies rührt daher, dass sich die vorhandene Struktur der Muskeln von Fötus zu Fötus unterscheidet. Die Anordnung der Gesichtsmuskeln zum Beispiel folgt einem ererbten Muster.

Das Ungeborene ist mit der Mutter verbunden und ohne diese nicht lebensfähig. Dennoch ist es – anders als ein Organ – nicht Teil der Mutter. Der Kreislauf des Fötus ist von dem Kreislauf der Mutter unabhängig. Der Fötus kann eine andere Blutgruppe als die Mutter haben. Außerdem kann der Fötus männlichen Geschlechts sein.

Beim gegenwärtigen Stand der Kenntnisse und technischen Möglichkeiten ist der Fötus ab der 22. Woche und bei einem Geburtsgewicht von etwa 500 Gramm bei einer Frühgeburt in der Lage, außerhalb der Gebärmutter zu überleben. Das hängt mit der Ausreifung der Atmungsorgane zusammen. Ein Fötus, der unter 500 Gramm wiegt, kann nur überleben, wenn er nach der Geburt mit maximalem intensivmedizinischem Aufwand versorgt wird. In den Niederlanden ist der Schwangerschaftsabbruch in einer Notlage bis zur 24. Entwicklungswoche (= 22. Schwangerschaftswoche) erlaubt. Weil keine klare Definition einer Notlage festgeschrieben ist, wird die „Notlage“ sehr weit gedeutet, so dass letztendlich Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich bis zur 24. Entwicklungswoche erfolgen können. Um auf Nummer sicher zu gehen, führen viele Ärzte nach der 22. Entwicklungswoche keine Schwangerschaftsabbrüche mehr durch.iv

Den voraussichtlichen Geburtstermin eines Fötus setzt man 266 Tage oder 38 Wochen nach der Befruchtung an bzw. 280 Tage oder 40 Wochen nach der letzten normalen Menstruation.v

Der Zeitpunkt der Menschwerdung

Der Entwicklungsprozess des Ungeborenen ist ein kontinuierlicher Vorgang. Dabei entwickelt es sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch. Scharfe Einschnitte gibt es nicht, allerdings verschiedene Perioden.

Der früheste Zeitpunkt, den man als Beginn des Menschenlebens definieren kann, ist die Verschmelzung von Eizellkern und Samenzellkern Infolge dieser Befruchtung/Empfängnis entsteht ein Zellhaufen, der allerdings schon die genetischen Anlagen des werdenden Menschen in sich trägt. Die Zellen kommunizieren miteinander und es teilen sich die Aufgaben auf. Insofern kann man nicht von einem Zellhaufen im Sinne der beliebigen Austauschbarkeit der Zellen sprechen.

Man kann auch die Einnistung (Nidation) in die Gebärmutterwand, die am 5. oder 6. Tag beginnt und am 13. Tag abgeschlossen ist, als Beginn der Menschwerdung ansehen. Erst wenn das Ungeborene von der Mutter genährt und geschützt wird, ist es überlebensfähig.

Mit der Bildung des Primitivstreifens am 14. Tag wird das Ungeborene zweifellos ein Individuum, denn von diesem Zeitpunkt an entstehen keine Zwillinge mehr. Das Bundesverfassungsgericht vertritt in seinen beiden Urteilen von 1975 und 1993 die Ansicht, dass Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis am 14. Tage nach der Empfängnis beginnt. Dabei spricht es von „Nidation“ und „Individuation“. Die Nidation ist am 14. Tag bereits abgeschlossen. „Individuation“ im Hinblick auf den 14. Tag dürfte meinen, dass sich die Entwicklung des Embryos von diesem Tag an als Individuum vollzieht, sich keine Zwillinge mehr bilden.

Ebenfalls in die 3. Woche fällt der Beginn der Entwicklung des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark), dem ebenfalls besondere Bedeutung zukommt. Anfang und Ende der Hirntätigkeit kann man nämlich als Anfang und Ende des Lebens betrachten. Nicht umsonst wird der Hirntod als das Ende des menschlichen Lebens angesehen.

Man kann auch den in der 5. Woche einsetzenden Herzschlag als Beginn des Lebens ansehen. Ein funktionsfähiges Herz ist für den Blutkreislauf erforderlich, der wiederum die Voraussetzung für menschliches Leben darstellt.

Wenn alle wesentlichen Organe des Embryos angelegt sind, erfolgt der Übergang zur Fötusperiode. Auch ihn kann man als einen Übergang ansehen, der das Menschsein begründet.

Auch der Beginn der Lebensfähigkeit des Fötus in der 22. Woche kann als Zeitpunkt der Menschwerdung angesehen werden. Von nun an ist das Leben des Ungeborenen nicht mehr untrennbar mit dem Leben der Mutter verbunden.

Als letzter Zeitpunkt der Menschwerdung kommt die Geburt infrage, die allerdings letztendlich nur den Austritt des Ungeborenen aus dem Mutterleib darstellt. Mit der Geburt des Menschen beginnt die Entwicklung des Menschen nicht und mit ihr ist die Entwicklung auch nicht abgeschlossen. Nach der Geburt setzt der Mensch seine Entwicklung, die er vor der Geburt begonnen hat, fort.vi

Bemerkenswert ist, dass unter Gesichtspunkten der Entwicklung des Embryos die 12. Woche keine besondere Rolle spielt, obwohl sie die maßgebliche Frist für einen Schwangerschaftsabbruch darstellt. Die 12. Woche ist also weniger biologisch als vielmehr juristisch bedeutsam. Der Zeitraum von zwölf Wochen ist willkürlich bzw. traditionell festgelegt und speist sich aus vormodernen sowie religiösen Vorstellungen einer Beseelung des werdenden Lebens ca. 90 Tage nach der Empfängnis.vii

Über den genauen Zeitpunkt, wann die „Beseelung“ des Embryos stattfindet, besteht im Islam keine einhellige Meinung, doch aus Koranversen kann der 86.Tag hergeleitet werden. Es gibt aber auch Theologen, die sich auf Aussagen des Propheten berufen und vom 40. Tag oder dem 120. Tag ausgehen.viii

Die SKIP-Argumente

Auf die Frage hin, ob dem Ungeborenen Menschenwürde und ein eigenes Recht auf Leben zukommen sollen, werden im Wesentlichen folgende vier Argumente vorgebracht: 1. Wer zur Spezies Mensch gehört, ist als menschliches Lebewesen schutzwürdig. 2. Jeder Versuch, einen Zeitpunkt in der Entwicklung eines Menschen zu definieren, ab dem er schutzwürdig ist, ist willkürlich. 3. Der menschliche Embryo ist mit der Person, die aus ihm hervorgeht, identisch. 4. Bereits die befruchtete Eizelle besitzt die volle Potenzialität, sich zu einem geborenen Menschen und damit zu einer Person zu entwickeln. SKIP ist ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben dieser vier Argumente: Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potenzialitätsargument.

Das Speziesargument

Gemäß dem Speziesargument dürfe man einen Embryo nicht töten, weil er biologisch der Spezies Mensch (homo sapiens) angehört. Im Zusammenhang mit diesem Argument wird oft auf die religiöse Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen oder auf das Prinzip der Menschenwürde hingewiesen.

Dagegen wird eingewendet, dass es unzulässig sei, aus einem Faktum eine Norm zu folgern. Nicht weil unsere Biologie so ist, wie sie ist, hätten wir Rechte inne. Vielmehr hätten Menschen typischerweise bestimmte Eigenschaften, die wir so bei keiner anderen uns bekannten Spezies fänden. Aufgrund dieser Eigenschaften sei der Mensch zu schützen. Daher stellten sich folgende Fragen: Welche Eigenschaften sind für die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch (homo sapiens) entscheidend? Haben Embryonen diese wirklich auch schon?

Die Begründung der Schutzwürdigkeit des Embryos mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist problematisch, weil die Rede von der Gottesebenbildlichkeit der Deutung bedarf und sich außerdem in erster Linie auf den geborenen Menschen bezieht. Auch das Prinzip der Menschenwürde hat in erster Linie den geborenen Menschen im Blick und kann nicht ohne Weiteres auf den Embryo bezogen werden. Und schließlich ist auch unklar, wann der Mensch beseelt wird. In Philosophie und Theologie gibt es verschiedene Annahmen. Da stellen sich die Fragen: Ist ein unbeseelter Mensch mit einem beseelten identisch? Gibt es eine Seele überhaupt?

Das Kontinuumsargument

Bei dem Kontinuumsargument wird vorgebracht, dass die menschliche Entwicklung von der Empfängnis an kontinuierlich verlaufe und keine scharfen Einschnitte aufweise. Folglich gebühre dem Embryo in jedem Entwicklungsstatus Menschenwürde und ein eigenes Recht auf Leben.

Eingewendet wird, dass auch bei einer kontinuierlichen Entwicklung bezüglich Menschenwürde und Recht auf Leben Abstufungen vorgenommen werden könnten. So würde bei einem Feuer in einem biotechnischen Labor eher ein geborener Säugling gerettet als zehn im Reagenzglas gezeugte Embryonen. Das Bundesverfassungsgericht geht auf jeden Fall in seinen beiden Urteilen davon aus, dass je nach Entwicklungsstand des Embryos Abstufungen erlaubt und sogar geboten sind.

Das Identitätsargument

Gemäß dem Identitätsargument sei der Embryo mit dem Menschen identisch, der unter glücklichen Umständen aus ihm hervorgeht. Dies sei die Schlussfolgerung aus der Tatsache, dass die menschliche Entwicklung kontinuierlich vor sich geht und keine scharfen Einschnitte aufweist. Der ungeborene Mensch sei zwar kleiner, weniger entwickelt, in einer anderen Umgebung und abhängiger als der geborene Mensch, dennoch sei er mit dem geborenen Menschen identisch.

Dagegen wird vorgebracht, dass aus frühen Embryonen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, der Bildung des Primitivstreifens, eineiige Zwillinge hervorgehen können. Dann habe man es nicht mit einem, sondern mit zwei Menschen zu tun. Außerdem sei unklar, inwiefern der Embryo mit dem später aus ihm hervorgegangenen Menschen identisch ist. Dass es die gleiche menschliche DNA ist, reiche sicher nicht aus (vgl. Speziesargument). Ein Embryo sehe nicht gleich aus wie ein erwachsener Mensch. Und Parallelen aus der Tierwelt legten nahe, dass Embryo und aus ihm hervorgegangener Mensch nicht identisch sind. Schließlich sei beispielsweise eine Raupe nicht mit einem Schmetterling identisch. Zu bedenken sei auch, dass sich nur ein Teil des Embryos schließlich zum Kind entwickelt.

Bezüglich des Identitätsarguments stellt sich die Frage, welche Rolle die Empfindungsfähigkeit des Embryos spielt. Ist ein Embryo mit dem aus ihm hervorgehenden Menschen identisch, sobald er fähig ist, Empfindungen zu spüren?

Das Potentialitätsargument

Bei dem Potentialitätsargument wird vorgebracht, dass sich zwar die aktuellen Eigenschaften von menschlichen Embryonen nicht dafür eignen, Menschenwürde und Tötungsverbot zu begründen, die zu erwartenden menschlichen Eigenschaften aber genau die seien, auf denen Menschenwürde und Lebensrecht gründen.

Gegen dieses Argument wird vorgebracht, dass man dann Kastanien nicht ohne Skrupel an Tiere verfüttern oder als Bastelmaterial benutzen dürfte. Potenziell könne nämlich aus jeder Kastanie ein Kastanienbaum entstehen. Außerdem könnte man schon Ei- und Samenzelle vor der Verschmelzung das Potenzial zuschreiben, sich unter geeigneten Umständen zu einem Kind und weiter zu einem erwachsenen Menschen zu entwickeln.ix

Auch wird bestritten, dass sich aus Potenzialitäten Rechtsfolgen ableiten lassen: So sei jeder Mensch, der einen Lottoschein ausfüllt, ein ‚potenzieller Millionär‘, und jeder, der eine Waffe trägt, ein ‚potenzieller Mörder‘. Dennoch würde sicherlich niemand der Behauptung zustimmen, dass solche Potenzialitäten bereits ausreichten, um dem einen den Lotto-Jackpot auszuzahlen und den anderen lebenslang hinter Gitter zu bringen.x

i Amtsblatt der Europäischen Union, Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 18. Oktober 2011 (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs Deutschland) — Oliver Brüstle/Greenpeace e.V. (Rechtssache C-34/10), https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:62010CA0034 (28.02.2022).

ii Vgl. https://medlexi.de/Fruchtwasser (28.02.2022)

iii Vgl. https://www.wissensschau.de/stammzellen/nabelschnur_plazenta_entwicklung_funktion.php (28.02.2022).

iv Vgl. https://weiterdenken.de/index.php/de/2020/10/14/zum-recht-auf-abtreibung-den-niederlanden (28.02.2022).

v Ausführlich zu den verschiedenen Entwicklungsstadien des Ungeborenen siehe Ulrich Drews, Taschenatlas Embryologie, Stuttgart 1993; Keith L. Moore, T. Vidhya N. Persaud, Mark G. Torchia, Embryologie: Entwicklungsstadien – Frühentwicklung – Organogenese – Klinik, München, 6. Aufl.. 2013; Thomas W. Sadler, Taschenlehrbuch Embryologie, Stuttgart, 12., überarb. u. erw. Aufl. 2014; Norbert Ulfig, Kurzlehrbuch Embryologie, Stuttgart – New York, 2., überarb. Aufl. 2009. Einen kurzen Überblick über die Entwicklung des Ungeborenen bieten Stefan Rehder, Wunder Mensch, LebensForum, 137/1 (2001), 20-21 und Stephen Schwarz, Die verratene Menschenwürde: Abtreibung als philosophisches Problem, Köln 1992, 15-30.

vi Eine kritische Bewertung verschiedener möglicher Grenzziehungen, ab wann das Ungeborene als Mensch angesehen werden kann, bietet Stephen Schwarz, Die verratene Menschenwürde: Abtreibung als philosophisches Problem, Köln 1992, 62-78, der von einem Kontinuum menschlichen Lebens ausgeht.

vii Auf die willkürliche bzw. traditionelle Festlegung weist Humanistischer Verband Deutschlands, Bundesverband, Zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts, hin.

viii Vgl. Stellungnahme Sozialdienst muslimischer Frauen (SmF-Bundesverband). Für die Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin.

ix Eine ausführliche Diskussion der SKIP-Argumente findet sich in Gregor Damschen, Dieter Schönecker [Hrsg.], Der moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument, Berlin 2002. Eine kritische Betrachtung der SKIP-Argumente bietet Reinhard Merkel, Rechte für Embryonen?, in: U. Wiesing [Hrsg.], Ethik in der Medizin: ein Studienbuch, Stuttgart, 5., erw., aktual. u. vollst. durchges. Aufl. 2020, 188-196.

x Vgl. Institut für Weltanschauungsrecht, Plädoyer für eine Legalisierung des selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruchs. ifw-Stellungnahme zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Regelung zum Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs möglich ist (Oktober 2023).