Die emotionale Diskussion um die Zulässigkeit von Tierversuchen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade in der Medizin und Tiermedizin bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ohne Tierversuche möglich gewesen wären. Dies zeigt sich gerade im Bereich der Impfungen, die vielen Infektionskrankheiten ihren Schrecken genommen haben und so für Mensch und Tier einen Segen darstellen.
Ein Menschenversuch legt den Grundstein für die moderne Impfung
Am 14. Mai 1796 führte der englische Landarzt Edward Jenner ein Experiment durch, das ihn berühmt machen sollte: Eine Viehmagd hatte sich, kurz nachdem sie sich an der Hand mit einem Dorn geritzt hatte, beim Melken mit Kuhpocken infiziert. Jenner entnahm etwas Sekret aus einer der Pusteln an ihrem Arm und ritzte dieses in den Arm eines achtjährigen Jungen ein. In den folgenden Tagen beobachtete er, ob sich eine Reaktion einstellen würde. Am neunten Tag bekam der Junge etwas Schüttelfrost und leichte Kopfschmerzen und war am nächsten Tag wieder genesen. Nun infizierte der Arzt den Jungen mit einer Dosis „echter“ Pockenviren und beobachtete den weiteren Verlauf. Der Junge blieb auch danach gesund. Jenner hatte den Grundstein für die moderne Impfung gelegt.
Was war das Besondere am dem Experiment? Schon früh hatte man erkannt, dass pockennarbige Personen – also Personen, die die Pocken überlebt hatten, nicht wieder daran erkrankten. Diese Erkenntnis führte zur Variolation, die zunächst in Indien, China und der Türkei durchgeführt wurde. Dabei wurde Eiter aus Pusteln von nur leicht an Pocken erkrankten Menschen entnommen und Gesunden in die Haut eingeritzt. Man infizierte also absichtlich Gesunde in der Hoffnung, bei den so Behandelten werde die Erkrankung auch nur so leicht verlaufen wie bei der Infektionsspenderin oder dem Infektionsspender. Im Jahr 1721 fand die Variolation den Weg nach England, wo Jenner schließlich von ihr erfuhr. Die Variolation war jedoch nicht ganz unproblematisch: Die behandelnde Person durfte nicht zu tief in die Haut ritzen und nicht zu viel infektiöses Material verwenden. Vor allem musste die so behandelte Person vor der Impfung bei bester Gesundheit gewesen sein. Andernfalls bestand die Gefahr, dass sie an Pocken erkrankte und schlimmstenfalls ihre Umgebung ansteckte. Jenner war sich dieser Gefahren bewusst und verwendete daher zum Immunisieren statt der „echten“ Pockenviren die für den Menschen harmloseren Kuhpockenviren. Dass dies funktionierte, liegt daran, dass beide Virusstämme zu einer Familie gehören und sich immunologisch so ähnlich sehen, dass sie eine sogenannte Kreuzimmunität auslösen. Das bedeutet, dass eine Person, die mit Kuhpocken infiziert worden ist, mit großer Wahrscheinlichkeit an den „echten“ Pocken nicht mehr erkrankt. Zu Ehren der Kuh – lateinisch vacca -, die ihn letztlich auf den genialen Gedanken gebracht hatte, nannte Jenner sein neues Verfahren „vaccination“ („Vakzination“). Die genauen naturwissenschaftlichen Hintergründe des Versuchserfolges waren ihm dabei unbekannt. Er hatte aufgrund genauer Beobachtung gehandelt.i
Die Anfänge der Bakteriologie
Wie Krankheiten entstehen und sich Seuchen ausbreiten, darüber war man sich bis ins 19. Jh. hinein uneinig. Meist ging man aufgrund fehlenden Wissens über Bakterien und Viren davon aus, dass üble Gerüche an den Krankheiten und den Seuchen Schuld seien. Diese würden sich mittels eines in Erde und Luft befindlichen, als „Miasma“ bezeichneten Stoffes ausbreiten.
Bakterien waren zwar auch schon unter dem Mikroskop beobachtet worden, jedoch hielt man sie lange Zeit nicht für die Entstehung und Verbreitung von Krankheiten verantwortlich. Vielmehr ging man allgemein davon aus, dass durch sogenannte Urzeugung (Generatio spontanea) Leben spontan aus toter Materie entstehen könne. Nach dieser Theorie entstanden die unter dem Mikroskop entdeckten Mikroorganismen spontan im Untersuchungsmaterial und hatten nichts mit der Entstehung von Krankheiten zu tun.
Angesichts der weiten Verbreitung der Theorie der Urzeugung war schon reichlich ungewöhnlich, was der Göttinger Anatom Friedrich Gustav Jakob Henle in seiner Schrift Pathologische Untersuchungen (1840) für eine These vertrat: Infektionskrankheiten würden von einem lebenden Agens (Contagium vivum), möglicherweise pflanzlicher Natur, das sich im Körper wie ein Parasit verhalte, hervorgerufen. Angeregt worden war Henle bei seinen Überlegungen von Agostino Bassi, einem Gutsverwalter aus Piemont, der 1835 nachgewiesen hatte, dass der Erreger einer als „Kalksucht“ bezeichneten Krankheit der Seidenraupen ein Pilz war. Damit hatte Bassi das erste Beispiel für eine von Mikroorganismen verursachte Krankheit geliefert. Zu seiner Erkenntnis war Bassi u. a. mit Hilfe von Tierversuchen gekommen: Er hatte gesunde Raupen mit dem weißen Puder und feinen Gespinst, von dem verendete Seidenraupen überzogen waren, in Berührung gebracht und sie auf diese Weise mit der Krankheit angesteckt.
Die Wissenschaft tat vorerst Henles These als spekulativ ab, bis 1857 der Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur die spontane Urzeugung experimentell widerlegen konnte: Verantwortlich für den Gärungs- und Fäulnisprozess waren Mikroorganismen, die in der Natur überall vorkamen und von denen sich einige sogar unter Sauerstoffabschluss vermehren konnten.ii
Die Entwicklung von Impfstoffen gegen Milzbrand und Tollwut
Je mehr sich die Erkenntnis durchsetzte, dass Mikroorganismen bei Mensch und Tier Krankheiten auslösen können, desto größer wurde das Interesse an einem Schutz gegen die Krankheitserreger. Besonderes Interesse galt zunächst dem Milzbrand, auch Anthrax genannt, der den Viehbeständen großen Schaden zufügte und wegen seiner Übertragbarkeit auf den Menschen gefürchtet war. Robert Koch, der 1872 in Pommern eine Stelle als Kreisarzt gefunden hatte, wurde bei seiner beruflichen Tätigkeit mit dieser Krankheit konfrontiert. Der Milzbrand zählte bereits zu den am besten erforschten Infektionskrankheiten und es galt als wahrscheinlich, dass sie durch stäbchenförmige Gebilde übertragen wurde, die sich im Blut erkrankter Tiere nachweisen ließen. Koch gelang es, den Bazillus anthracis zu züchten und seinen Lebenszyklus vollständig zu beschreiben.
Das Verhältnis zwischen den beiden Forschern Koch und Pasteur war von einer Mischung aus Unwissenheit und Konkurrenz geprägt. Koch war Deutscher, Pasteur Franzose. Damit kam es aufgrund mangelnder Kenntnisse des Sprache des Anderen bei der Verständigung zu Problemen. Außerdem versuchten sich die beiden nationalistisch gesinnten Männer bei ihren Forschungen zu übertrumpfen. Aufgrund des Wetteifers der beiden ist nicht ganz einfach auszumachen, wem welche wissenschaftlichen Erkenntnisse zuzuschreiben sind. Die eigentliche Schutzimpfung verdankt die Medizin Pasteur, der 1880 an den Kühen eine Beobachtung bestätigen konnte, die bereits bei den Schafen gemacht worden war: Dass die Tiere, die die Krankheit überlebten, danach gegen die Einspritzung der virulenten (= krankmachenden) Bakterien geschützt waren. Nach verschiedenen Versuchen kam er zu folgendem Ergebnis: „Was seine Ansteckungsfähigkeit betrifft, stellt man die außerordentliche Tatsache fest, dass das Milzbrandbakterium sie bereits nach acht Tagen Lagerung bei 42-43°C bis auf Weiteres verliert; zumindest sind seine Kulturen für das Meerschweinchen, das Kaninchen und das Schaf ungefährlich, drei der Tierarten, die am geeignetsten sind, am Milzbrand zu erkranken […]. Was wäre einfacher, als in diesen Virenkulturen die eigentlichen Viren zu finden, um das Milzbrandfieber auf Schafe, Kühe, Pferde zu übertragen, ohne dass sie dabei zu Tode kommen, und sie so gegen die tödliche Krankheit zu schützen? Wir haben diesen Vorgang mit großem Erfolg an den Schafen praktiziert.“ Die Nachricht von diesem Ergebnis wurde rasch außerhalb des Labors bekannt und von einigen mit Begeisterung, von vielen jedoch mit Skepsis aufgenommen. Der Forderung nach eindeutigen Tests kam Pasteur mit einem öffentlichen Experiment nach: Auf einem Bauernhof wurde von 50 Schafen ebenso wie einigen Kühen und Ziegen die Hälfte geimpft, wogegen die andere Hälfte keine Behandlung bekam. Der Erfolg war durchschlagend: Die 25 geimpften Schafe überlebten die Impfung mit dem virulenten Bakterium und die 25 nicht geimpften starben. Infolge dieser beeindruckenden Demonstration verbreitete sich der Impfstoff, zubereitet nach der ursprünglich von Pasteur empfohlenen Methode, auf der ganzen Welt und erlaubte es Millionen von Tieren, Schafe wie Rinder, vor dem Milzbrand zu schützen.iii
Auch bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen die gefürchtete Tollwut, die insbesondere infolge von Bissen eines tollwütigen Tieres übertragen wird, spielte Pasteur eine herausragende Rolle. Seinen Forschungen lagen die Tierversuche des Tierpathologen Victor Galtier zugrunde: Er hatte nachgewiesen, dass Schafen tollwutinfizierter Speichel in die Venen gespritzt werden konnte, ohne dass sie an Tollwut erkrankten. Derart vorbehandelte Tiere waren gegen eine spätere Bissinfektion gefeit. Für Pasteur war offenkundig, dass die Tollwut von einer Mikrobe verursacht wird, wobei er sie jedoch unter dem Mikroskop nicht entdecken konnte. Das lag daran, dass es sich um Viren handelt, die kleiner als Bakterien sind, und die Vergrößerung der damaligen Mikroskope nicht ausreichte, sie sichtbar zu machen. Ähnlich wie bei dem Milzbranderreger entwickelte Pasteur einen Impfstoff dadurch, dass er den Krankheitserreger abschwächte. Da er davon ausging, dass bei an Tollwut gestorbenen Kaninchen das Rückenmark die Quelle der Mikrobe sei, von der aus die Tollwut auf ein anderes Kaninchen übertragen werden könne, ließ er zur Abschwächung das Tollwut-Rückenmark an der Luft altern. Die Beobachtung, dass die Krankheit meist erst einen Monat oder später nach einem Biss ausbricht, brachte ihn auf den Gedanken, während dieser Inkubationszeit eine Schutzimpfung auszuprobieren. Die erste Versuchsperson war ein neunjähriger, von einem tollwütigen Hund gebissener Junge. Dieser erkrankte nicht, worauf in den folgenden 15 Monaten 2490 Menschen die Schutzimpfung erhielten.iv
Serumtherapie und Entdeckung der Toxine
Am von Robert Koch gegründeten Berliner Institut für Infektionskrankheiten lernten sich 1891 Paul Ehrlich und Emil von Behring kennen, die sich beide mit der Bekämpfung von Infektionskrankheiten befassten. Während Ehrlich zunächst noch das Wachstum von Bakterien mit Farbstoffen, vor allem Methylenblau, bremsen wollte, entwickelte von Behring den vielversprechenden Ansatz der Serumtherapie. Ausgehend von der Tatsache, dass manche Tierarten durch eine Infektion mit bestimmten Erregern nicht krank wurden, andere aber erkrankten und starben, fragte er sich, was die nicht erkrankten Spezies schützt. Anhand von ersten Tests mit Ratten stellte von Behring fest, dass die schützenden Faktoren im Blutserum – d. h. im Blut ohne die zuvor herausgefilterten Blutkörperchen – lagen.
Gemeinsam mit dem Japaner Kitasato Shibasaburo experimentierte von Behring weiter, und zwar mit Meerschweinchen. An ihnen wollte er zeigen, dass auch angezüchtete Bakterienkulturen mit Diphtherieerregern durch das spezielle Serum inaktiviert werden konnten. Überraschenderweise blieb hier aber der Erfolg aus. Die Bakterien zeigten sich von dem Serum unbeeindruckt und vermehrten sich in ihrer Kultur munter weiter. Wie konnte es sein, dass das Serum nicht die Vermehrung der Bakterien verhinderte, aber trotzdem ganz offensichtlich vor der Krankheit schützte? Von Behring und Kitasato erkannten, dass nicht die Erreger selbst die Übeltäter waren, sondern die Toxine, giftige Stoffwechselprodukte der Erreger. Dies konnten sie auch beim Wundstarrkrampf (Tetanus) nachweisen. Die theoretischen Grundlagen der Serumtherapie arbeitete Paul Ehrlich intensiv aus. Dieser befasste sich auch mit der richtigen Dosierung des Immunserums und erarbeitete bahnbrechende Theorien über die Wirkung von Giften und Gegengiften bzw. Arzneimitteln. Als erster Direktor des 1896 in Berlin-Steglitz gegründeten Instituts für Serumforschung und Serumprüfung hatte er den Auftrag, die Grundprinzipien staatlicher Arzneimittelkontrolle zu entwickeln und umzusetzen. Auslöser dafür war die stark schwankende Qualität und Wirksamkeit des Immunserums.
Die Diphtherie war in den 1880er Jahren eine der Hauptursachen für den frühen Tod von Kindern. Insofern war die Entwicklung des Diphtherieserums ein Meilenstein in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten und Kindersterblichkeit. Man pries von Behring im Volksmund als „Retter der Kinder“ und zeichnete ihn für seine Arbeit mit dem ersten Medizin-Nobelpreis der Geschichte aus, der im Jahr 1901 vergeben wurde. Robert Koch folgte als Nobelpreisträger im Jahr 1905, Paul Ehrlich 1908.v
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i Vgl. Klaus Hartmann: Impfen, bis der Arzt kommt, München 2012, S. 18-20; Pocken, hrsg. vom Robert Koch – Institut (im Internet aufrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Biosicherheit/Agenzien/bg_pocken.pdf?__blob=publicationFile, 30.11.2023).
ii Vgl. Angela von den Driesch, Joris Peters: Geschichte der Tiermedizin: 500 Jahre Tierheilkunde, 2., akt. und erw. Aufl., Stuttgart 2003, S. 157-159; https://de.wikipedia.org/wiki/Agostino_Bassi (19.05.2017).
iii Vgl. Christoph Gradmann: Krankheit im Labor. Robert Koch und die medizinische Bakteriologie, Göttingen 2005, S. 20-23.67-81; Annick Perrot, Maxime Schwartz: Robert Koch und Louis Pasteur. Duell zweier Giganten, Darmstadt 2015, S. 89-94, Zitat S. 92-93; Angela von den Driesch, Joris Peters: Geschichte der Tiermedizin: 500 Jahre Tierheilkunde, 2., akt. und erw. Aufl., Stuttgart 2003, S. 160-164.
iv Vgl. Annick Perrot, Maxime Schwartz: Robert Koch und Louis Pasteur. Duell zweier Giganten, Darmstadt 2015, S. 149-162; Angela von den Driesch, Joris Peters: Geschichte der Tiermedizin: 500 Jahre Tierheilkunde, 2., akt. und erw. Aufl., Stuttgart 2003, S. 182-185.
v Vgl. Klaus Hartmann: Impfen, bis der Arzt kommt, München 2012, S. 24-27; https://www.pei.de/DE/institut/paul-ehrlich/paul-ehrlich-im-portrait-node.html (01.12.2023).