Von den Menschen, die sich nicht den Frauen oder Männern zuordnen, sondern als „divers“ verstehen, werden häufig die Genderzeichen favorisiert. Sie werden als Platzhalter verstanden, die deutlich machen, dass es neben „Frau“ und „Mann“ auch noch andere Geschlechter gibt. Besonderen Anklang findet das Gender-Sternchen (lateinisch: „Asterisk“ = „Stern“), weil es mit seiner Vielzahl Zacken die Vielfalt der Geschlechter besonders gut wiedergibt.
Eine andere Einstellung zu den Genderzeichen haben Menschen mit Seh- und/oder Hörbehinderung. Für sie stellen die Sonderzeichen ein zusätzliches Problem beim Lesen und Hören von Texten dar. Daher wird insbesondere die „geschlechtergerechte Sprache“, die sich der Sonderzeichen bedient, oftmals als nicht barrierefrei angesehen. Eine genauere Betrachtung des Sachverhalts führt jedoch zu einer differenzierteren Sichtweise.
Genderzeichen sind Sache der Schriftsprache, nicht der Gebärdensprache, mittels derer Taube und Hörgeschädigte kommunizieren. Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist geschlechtsneutral und somit geschlechtergerecht. Zum Zwecke der Sensibilisierung für die verschiedenen Geschlechter kann geschlechtsbetonte Schriftsprache in Gebärdensprache übertragen werden. Das führt jedoch zu einer erheblichen Erschwerung des Gebärdens und Verstehens.
Genderzeichen als Herausforderung beim Vorlesen
Menschen, die blind sind oder nur sehr schlecht sehen können, können einen Text nicht selbst lesen. Daher müssen sie sich Texte vorlesen lassen. Das kann durch einen anderen Menschen geschehen, aber auch durch ein Vorleseprogramm, als „Screenreader“ bezeichnet, oder ein (transportables) Vorlesegerät.
Die Verwendung von Genderzeichen in Texten stellt die Vorleseprogramme, Vorlesegeräte und auch ihre Nutzer vor Herausforderungen. Dem Grundsatz nach werden die Sonderzeichen mitgelesen. „Postbot_innen“ beispielsweise wird dann zu „Postbot Unterstrich Innen“ und „Postbot*innen“ zu „Postbot Sternchen innen“. Weil der „Unterstrich“ und das „Sternchen“ an einer Stelle auftauchen, wo es nicht zu erwarten ist, werden die Nutzer irritiert. Das Vorleseprogramm liest aber unerbittlich weiter und der nächste Halbsatz wird möglicherweise von den Hörern verpasst. Der konsequente Gebrauch von Genderzeichen kann natürlich zu einer Gewöhnung führen. Allerdings werden sie bei einer Häufung nervig.
Verschiedentlich wird von sehbehinderten Menschen der Doppelpunkt bevorzugt. Bei dem Doppelpunkt handelt es sich im Gegensatz zum Sternchen und Unterstrich nicht um ein Sonderzeichen, sondern um ein Satzzeichen (Interpunktionszeichen). Daher wird er in der Standardeinstellung der meisten Vorleseprogramme nicht mitgelesen. Dann entsteht eine Pause. Je nach Programm und Einstellung kann diese kürzer oder länger ausfallen. Fällt die Pause lang aus, kann der Eindruck entstehen, der Satz sei zu Ende. Wenn dann aber unvermittelt der Satz mit der zweiten Worthälfte „innen“ weitergeht, ist die Verwirrung groß. Eine kurze Pause wird kognitiv besser verarbeitet, weil das Wort als zusammenhängend erkannt wird. Ähnlich ist der Sachverhalt bei dem Unterstrich, der vom Vorleseprogramm und Vorlesegerät als Leerzeichen angesehen wird.
Angesichts dieser Erfahrungen wäre es jedoch ein Kurzschluss zu meinen, dass der Doppelpunkt und Unterstrich grundsätzlich barrierefreier als das Sternchen seien. Die Erfahrungen sind nämlich sehr verschieden. Je nach Vorleseprogramm, Version und Einstellung können Genderzeichen vorgelesen, durch eine Pause ersetzt oder einfach weggelassen werden. Die Erfahrungen sind also individuell sehr verschieden. Das gilt auch für die Geschmäcker.
Technisch lassen sich die Probleme lösen. Allerdings ist zwischen den technischen Möglichkeiten und der praktischen Umsetzung zu unterscheiden. Nicht alle Blinden und Sehbehinderten haben das Geld, sich ausgefeilte kommerzielle Vorleseprogramme und dazu noch die aktuellste Version zu leisten. Selbst wenn sie über die notwendigen Funktionen verfügen, wissen sie nicht unbedingt alle Möglichkeiten zu nutzen. Und schließlich bleibt als Problem, dass eine gewählte Einstellung nicht nur für Genderzeichen gilt. Wenn Gender-Sternchen nicht mehr vorgelesen werden, dann werden auch Sternchen nicht mehr vorgelesen, die Pflichtfelder anzeigen oder auf Fußnoten hinweisen. Und wenn Unterstriche nicht vorgelesen werden, dann gilt das nicht nur für die Genderzeichen, sondern auch für Unterstriche beispielsweise in E-Mail-Adressen.i
Genderzeichen in Brailleschrift hinderlich
Bei der Blindenschrift Braille handelt es sich um eine Punktschrift. Diese folgt einem eigenen Regelwerk und besteht aus kleinen erhabenen Pünktchen, die von blinden Menschen mit der Fingerkuppe gelesen werden.
Der DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband) merkt an: „Bei Texten in Brailleschrift – auch in Papierform – müssen Sonderzeichen durch spezielle Ankündigungszeichen als solche gekennzeichnet werden, was den Lesefluss behindert. Erschwerend kommt hinzu, dass es aktuell keine einheitliche Gendervariante gibt, auf die sich Personen, die vorlesen, und die Hersteller von Computerprogrammen einstellen könnten.“ii
Auch binäre Kurzformen nicht empfehlenswert
Die Nachteile der Genderzeichen gelten ähnlich auch für die binären Kurzformen Klammer, Schrägstrich, Bindestrich/Minus und Binnen-I. Auch wenn beispielsweise von „Postbot(innen)“, „Postbot/-innen“ oder „PostbotInnen“ die Rede ist, tauchen grammatische Probleme und Schwierigkeiten beim Vorlesen auf. „Postbot“ ist keine korrekte männliche Form des Plurals von „Postbote“, Satzzeichen und Sonderzeichen hemmen den Lesefluss und nerven, und das mit einer Pause abgetrennte „innen“ irritiert. Werden alle Satz- und Sonderzeichen ignoriert, verbleiben rein weibliche Formen. Männliche Menschen tauchen genauso wenig auf wie diverse. Personenbezeichnungen mit Binnen-I werden von vornherein so vorgelesen, als seien sie nur weiblich.iii
Die Position des DBSV (Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.)
Angesichts der Schwierigkeiten im Hinblick auf die Kurzformen empfiehlt der DBSV das Ausformulieren von Personenbezeichnungen. So sollte es beispielsweise „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ heißen. Geeignet sei auch die Verwendung von geschlechtsneutralen Begriffen wie „Team“. Falls jedoch mit Kurzformen gegendert werden soll, empfiehlt der DBSV, das Sternchen zu verwenden, weil es laut Veröffentlichungen des Deutschen Rechtschreibrates die am häufigsten verwendete Kurzform sei und so dem Wunsch nach einem Konsenszeichen am nächsten komme. Zudem sei davon auszugehen, dass Doppelpunkt und Unterstrich für blinde und sehbehinderte Menschen schlechter erkennbar sind als das Sternchen.iv
Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist geschlechtsneutral
Neben der Schriftsprache (= geschriebene und gelesene Sprache), der Lautsprache (= gesprochene Sprache) und der Zeichensprache (z. B. Unterwasserzeichen von Tauchern oder Morse-Alphabet) gibt es auch die Gebärdensprache. Der Gebärdensprache bedienen sich hörgeschädigte und taube Menschen. Gebärden erfolgen mittels Gestik und/oder Mimik. Auch wenn die Gebärden Zeichen ähneln, handelt es sich genau genommen nicht um Zeichen. Die Gebärdensprache ist nicht nur eine Abfolge von Zeichen, sondern ist flexibel und dynamisch und folgt zugleich einem Grundgerüst aus Grammatikregeln.v Die Gebärden sind nicht weltweit einheitlich, so dass es verschiedene Gebärdensprachen gibt. In Deutschland wird die Deutsche Gebärdensprache (DGS) verwendet, wobei es regionale und lokale Eigenheiten gibt. Die Eigenheiten liegen in den gesellschaftlichen und kulturellen Unterschieden der verschiedenen Regionen und Städte begründet.
Die DGS ist eine geschlechtsneutrale Sprache. Das bedeutet, dass es kein grammatisches Geschlecht (= Genus) gibt. Die Gebärde für „Arzt“ beispielsweise kann gleichermaßen eine weibliche, eine männliche oder auch eine diverse Person meinen. Die DGS wird also weder als männlich noch als männlich und weiblich dominiert empfunden. Insofern ist die Debatte um die „geschlechtergerechte Sprache“ eine Debatte, die der Gemeinschaft der Hörgeschädigten und Tauben eher fremd ist. Sie wird in erster Linie von außen in sie hineingetragen.
Das bedeutet aber nicht, dass das Geschlecht in der DGS keine Rolle spielt. So werden für die Darstellung von Personen, deren biologisches Geschlecht (= Sexus) eindeutig ist, Gebärden verwendet, die (vermeintliche) Eigenheiten bezüglich Aussehen oder Verhalten sichtbar machen. Für die Darstellung einer Frau wird beispielsweise ein Busen oder ein Ohrring gebärdet. Es gibt bezüglich der einzelnen Gebärden durchaus Diskussionen, ob sie treffend oder diskriminierend sind. Diese Diskussionen sind aber keine Diskussionen um „geschlechtergerechte Sprache“ im engeren Sinne, wie sie Hörende führen.
Wenn das biologische Geschlecht des Arztes eine Rolle spielt, bedarf die geschlechtsneutrale Gebärde eines Zusatzes. Dieser Zusatz erfolgt mittels des Mundbildes, der Gebärde „Frau“ oder „Mann“ oder „Inter/Trans/Fluid“, der Gebärde für das Suffix „-in“ oder des Fingeralphabets. Speziell bei der zweiten Möglichkeit besteht die Gefahr eines Missverständnisses: So kann z. B. die Verbindung der Gebärde „Arzt“ mit der Gebärde „Frau“ als „Frauenarzt“ statt „Ärztin“ gedeutet werden.vi Aus Sicht der Geschlechtergerechtigkeit spricht gegen einen Zusatz zur Verdeutlichung des biologischen Geschlechts nichts. Allerdings ist er nur sinnvoll, wenn das biologische Geschlecht betont werden soll.
Schwierige Übertragung geschlechtsbetonter Sprache in die Deutsche Gebärdensprache
Die Übertragung von deutscher Schriftsprache in die DGS stellt ein Kapitel für sich dar. Da die DGS geschlechtsneutral ist, ist sie geschlechtergerecht, denn alle Geschlechter werden gleichermaßen nicht sichtbar gemacht. Dem entspricht geschlechtsneutrale geschriebene Sprache. Das generische Maskulinum ist einfach zu übersetzen, weil es alle Geschlechter gleichermaßen meint. So kann beispielsweise das Wort „Ärzte“ mit der Gebärde „Arzt“ plus der Gebärde „viele“ übersetzt werden. Als einzige Schwierigkeit muss nur erschlossen werden, ob der schriftliche Text Ärzte aller Geschlechter oder nur männliche Ärzte meint. Wenn Letzteres der Fall ist, müsste die Übersetzung mittels der Gebärde „Arzt“ plus der Gebärde „viele“ plus der Gebärde „Mann“ erfolgen. Das generische Maskulinum „Ärzte“ ist zwar nicht geschlechtsneutral, ähnelt aber der Gebärde „Arzt“ plus der Gebärde „viele“ insofern, als das Geschlecht irrelevant ist. Der Fokus liegt auf dem ausgeübten Beruf. Auch die geschlechtsneutrale „Ärzteschaft“ kann auf die beschriebene Art in die DGS übertragen werden. Allerdings kann die „Ärzteschaft“ im Sinne einer Institution oder eines Gremiums verstanden werden und ist insofern nicht unbedingt mit „Ärzte“ bedeutungsgleich.
„Für eine möglichst gerechte Formulierung zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter und für ein sensiblen Umgang mit Geschlechterdifferenzen“ (so die Position der Gesellschaft für Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser e. V.; GGKG)vii kann geschlechtsbetonte Schriftsprache verwendet werden. Ihre Übertragung in die DGS ist durchaus möglich, erschwert diese aber. Kein nennenswertes Problem stellt die Übertragung dar, wenn das biologische Geschlecht der den Arztberuf ausübenden Person bzw. Personen bekannt oder eindeutig bestimmbar ist. Schwierig wird es aber, wenn Bezeichnungen mit Genderzeichen übertragen werden sollen. Wie soll beispielsweise „Ärzt*innen“ übertragen werden? Naheliegende, einfache Übertragungsmöglichkeiten wie mittels der Gebärde „Arzt“ plus der Gebärde „viele“ oder mittels der Gebärde „Arzt“ plus der Gebärde „alle“ kommen nicht infrage, weil sie geschlechtsneutral statt geschlechtsbetont sind. Auch die Verwendung einer zusätzlichen Gebärde „Person“ bringt keinen Gewinn, weil sie ebenfalls geschlechtsneutral ist. Richtig wäre es, „Ärzt*innen“ so zu übertragen, dass alle verschiedenen Geschlechter gleichermaßen deutlich zum Ausdruck kommen. Das könnte mittels der Gebärde „Arzt“ plus der Gebärde „viele“ plus der Gebärde „Frau“ plus der Gebärde „Mann“ plus der Gebärde „Inter“, „Trans“ und/oder „Fluid“ geschehen. Das ist äußerst kompliziert und nicht praktikabel. Bleibt noch die Möglichkeit, alle Gebärden, die Geschlechter ausdrücken, in einer einzigen Gebärde zu vereinen. So kann eine Gebärde „Genderzeichen“ verwendet werden. Aber auch dieser Ausweg ist problematisch. Mal abgesehen davon, dass es keine Einigung auf ein Genderzeichen gibt und entsprechende Gebärden nicht unbedingt verstanden werden, fassen Genderzeichen nicht alle Geschlechter zusammen. Sie fassen nur alle Geschlechter zusammen, die nicht männlich oder weiblich sind.
Ein Genderzeichen kann hörbar gemacht werden, indem es durch einen Verschlusslaut (als „Glottisschlag“ oder „Glottisschluss“ bezeichnet), wie er kurz vor dem Erbrechen entsteht, ersetzt wird. Ein hörgeschädigter oder tauber Mensch wird aber den Verschlusslaut kaum hören oder von den Lippen ablesen können. „Ärzt*innen“ oder „Arbeiter*innen“ dürfte also gewöhnlich im Sinne von „Ärztinnen“ oder „Arbeiterinnen“ verstanden werden. Das führt zum einen zu Missverständnissen, zum anderen ist das nicht geschlechtergerecht, weil praktisch ausschließlich das weibliche Geschlecht hörbar und sichtbar gemacht wird.
iZu den Problemen, die sich mit Vorleseprogrammen ergeben können, äußern sich https://www.deutschlandfunk.de/gendern-und-barrierefreiheit-liebe-leser-unterstrich-innen-100.html (aufgerufen am 15.12.2022) und https://www.dbsv.org/gendern.html#gendern (aufgerufen am 15.03.2023). https://heikos.blog/2020/11/08/diskriminiert-das-gender-sternchen-blinde-menschen/ (aufgerufen am 15.12.2022) betont, dass die Erfahrungen von blinden und sehbehinderten Menschen mit Gendern und Vorleseprogrammen verschieden sind und sich somit auch die Bewertungen unterscheiden. Eine ausführliche Studie zu häufig genutzten Genderzeichen unter Aspekten der technischen Barrierefreiheit sowie ihrer Gebrauchstauglichkeit aus nutzerorientierter Sicht ist Stefanie Koehler (Erstautorin), Empfehlung zu gendergerechter, digital barrierefreier Sprache, hrsg. von der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik, August 2021, https://gleichstellung.uni-mainz.de/files/2021/10/empfehlung-zu-gendergerechter-digital-barrierefreier-sprache-studie-koehler-wahl.pdf (aufgerufen am 30.11.2023)..
iihttps://www.dbsv.org/gendern.html#barrierefreiheit (aufgerufen am 15.03.2023).
iiiEinen knappen, aber grundlegenden Einblick in das Gendern aus der Sicht blinder und sehbehinderter Menschen siehe Bundesverband der Kommunikatoren e. V. [Hrsg.], Kompendium Gendersensible Sprache. Strategien zum fairen Formulieren, Berlin 2020, 40.43. Mit dem barrierefreien Gendern befasst sich auch Lucia Clara Rocktäschel, Richtig gendern für dummies, Weinheim 2021, 127-132.
ivVgl. https://www.dbsv.org/gendern.html#gendern (aufgerufen am 15.03.2023).
vVgl. https://yomma.de/enzyklopaedie/zeichensprache/ (aufgerufen am 15.03.2023).
viEinen Überblick über die Möglichkeiten, bei Bedarf das biologische Geschlecht darzustellen, gibt Maria Kopf, Geschlechtergerechte Sprache und Genus in der DGS. Teil II: Eine empirische Bestandsaufnahme, Das Zeichen 36/119 (2022). Die theoretischen Aspekte von geschlechtergerechter Sprache und Genus in der Deutschen Gebärdensprache beleuchtet Maria Kopf, Geschlechtergerechte Sprache und Genus in der Deutschen Gebärdensprache. Teil I: Eine theoretische Bestandsaufnahme, Das Zeichen 36/118 (2022).
viihttps://www.das-zeichen.online/info/position-zum-geschlechterbewussten-und-geschlechtergerechten-sprachgebrauch-der-ggkg-e-v/ (aufgerufen am 15.12.2022).