Die Anfänge der Tierversuche liegen im Bestreben des Menschen begründet, Kenntnisse über sich selbst und die ihn umgebende Welt zu erlangen. Schon seit frühesten Zeiten lebte der Mensch eng mit dem Tier zusammen, seien es Haustiere oder Nutztiere. So kommt es, dass sich der Mensch seit jeher nicht nur für den eigenen Organismus interessierte, sondern auch für den des Tieres. Der naturwissenschaftliche Forschergeist, der uns heute in der aufgeklärten Zeit so vertraut ist, ist jedoch keinesfalls selbstverständlich. So stand ihm in der Antike ein auf Mythen und Götterglaube gegründetes Weltbild gegenüber. Tiere wurden in manchen Kulturen nicht nur als Geschöpfe Gottes angesehen, sondern als Verkörperungen von Göttern. Diesen durfte nichts zuleide getan werden. Mancherorts finden sich diese Vorstellungen auch heute noch.

Mythologisches versus naturwissenschaftliches Weltbild

Ob und in welchem Maße Tierversuche durchgeführt werden, hängt in hohem Maße vom Weltbild ab. Der Mensch, der sich in seiner Umwelt zurechtfinden und überleben muss, macht sich seit jeher Gedanken über ihren Ursprung und ihr Wesen und versucht Vorgänge zu erklären. Weil der Mensch vor Jahrtausenden noch nicht über die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse verfügte, die unser heutiges Leben prägen, hat er Unerklärliches auf Gott oder die Götter und deren Wirken zurückgeführt. Dabei blieb er nicht dabei stehen, die Welt samt ihren Lebewesen als Schöpfung eines Gottes oder mehrerer Götter anzusehen, sondern konnte Naturphänomene, Dinge oder Lebewesen auch vergöttlichen. So wurde beispielsweise der ägyptische Pharao oder – in späterer Zeit – der römische Kaiser in seiner Machtfülle und seinem Prunk als personifizierte Gottheit angesehen. Auch Tieren konnte Verehrung als Fleisch gewordene Gottheit zukommen. Solche „heiligen Tiere“ finden sich auch heute noch.

Das heilige Tier

Die Vorstellung, dass es sich bei bestimmten Tierarten um die Verkörperung von Gottheiten handelt, gab und gibt es in zahlreichen Kulturen. So gibt es bei vielen Völkern Mittel- und Südamerikas beispielsweise einen Jaguar-Gott. Das Volk der Tukano in Nordwest-Brasilien sieht den Jaguar als irdischen Vertreter der obersten Gottheit, der Sonne, an. Er ähnelt der Sonne durch seine gelbe Farbe. Sein Gebrüll gleicht dem Donner, der auch als die Stimme der Sonne angesehen wird. Als Vertreter der Gottheit besitzt der Jaguar große Schöpfungskraft und die Fähigkeit, Schutz zu gewähren. Und die Schildkröte verkörpert im Schöpfungsmythos der Taino, einem Volk der Großen Antillen, gewissermaßen die Urmutter der Menschheit.i

Viele tiergestaltige Erscheinungsformen von Göttern kannten im Altertum die Ägypter. Das lebende Tier galt dann als „Ba des Gottes“, was in etwa „Macht des Gottes“ bedeutet. Im Hinblick auf Tierversuche ist insbesondere der Affe von besonderem Interesse. So wurde der Pavian neben dem Ibis als eine Erscheinungsform des Gottes Thot angesehen, der ursprünglich ein Mondgott war, dann aber mit Schreiben und Wissen assoziiert wurde und Schreibern und Gelehrten jeglicher Art vorstand. Heilige Tiere wurden im Alten Ägypten mit besonderer Ehrfurcht behandelt. Man hielt sie in Tempeln, versorgte sie mit besonderer Nahrung und behängte sie manchmal sogar mit Schmuck. Und wenn diese Tiere starben, erhielten sie ein aufwändiges Begräbnis. Der Pavian war ebenso ein beliebtes Haustier wie der Hund und die Katze und wurde entsprechend verwöhnt. Gewalt wurde den heiligen Tieren nur zu religiösen Zwecken angetan, nämlich wenn sie ihren Besitzer als Grabbeigabe ins Jenseits begleiten sollten oder als Votivgabe einem Gott als Opfer dargebracht wurden.ii Heute ist das Verhältnis zu den Tieren in Ägypten ein anderes, eben weil sich die Glaubensvorstellungen gewandelt haben und auch weil aufgeklärtes und naturwissenschaftlich ausgerichtetes Denken Einzug erhalten hat. Zudem ist ein Teil der Tiere in Ägypten ausgestorben oder nur noch in deutlich verminderter Zahl anzutreffen.

Auch in Indien sind Affen heilig. Dies ist darauf zurückzuführen,dass im indischen Nationalepos Ramayana aus dem 1. oder 2. Jh. v. Chr. Affen eine Schlüsselrolle spielen. Der Held des Epos ist der Affe Hanuman (oder: Hanumat), der insbesondere von der indischen Landbevölkerung als Gott verehrt wird. Als dessen Nachkommen gelten die Languren, eine Affenart, die ebenso wie Hanuman einen langen Schwanz hat. Aufgrund ihrer göttlichen Abstammung werden auch die Languren verehrt und dürfen weder gefangen noch getötet werden.iii

Das bekannteste heilige Tier Indiens ist aber die Kuh. In der Mythologie hat die Kuh ihre Heiligkeit dem Gott Krishna zu verdanken. Nach seiner Geburt wurde Krishna zum Schutz vor einer drohenden Ermordung in die Obhut einer Hirtenfamilie gegeben und verbrachte als Hirtenjunge viel Zeit mit den Tieren. Mit der Hirtenfamilie, den Milchmädchen (Gopis) und den Kühen wuchs er auf und wurde von ihnen ernährt. Dadurch erreichte die Kuh den Status einer Mutter, die es zu verehren gilt. Dieser Mythos schützt die Kuh aber nicht unbedingt davor, vernachlässigt oder sogar geschlachtet zu werden. Die Regelungen bezüglich der Schlachtung von Kühen bzw. Bullen sind Sache der Bundesländer, nicht des Zentralstaats. Auch hängen nicht alle Inderinnen und Inder dem hinduistischen Glauben an oder nehmen es mit dem Glauben so genau. Hinzu kommt, dass für die verschiedenen Kasten jeweils eigene Regeln gelten. Daher kommt es, dass auch Rindfleisch verspeist und exportiert wird.iv

Eingriffe an lebenden Tieren in der Antike

Zu allen Zeiten haben verschiedene Weltbilder und Einstellungen gegenüber Tieren nebeneinander existiert. So haben schon immer Menschen Tiere als heilig angesehen oder als Schöpfung Gottes oder der Götter, aber auch ein auf der Vernunft gegründetes Weltbild vertreten und nach naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gestrebt. Allerdings haben sich die Gewichte verschoben: Im Altertum war die auf Mythen und religiösen Vorstellungen beruhende Weltsicht vorherrschend, ebenfalls im Mittelalter; mit der Aufklärung bekamen dagegen Vernunft und naturwissenschaftliche, auf Experimenten gründende Forschung mehr Raum.

Schon in der Antike wurden operative Eingriffe am lebenden Tier unternommen. Diese Eingriffe bezeichnete man lateinisch als „incidere vivorum corpora“, was man mit „die Körper der Lebenden schneiden“ übersetzen kann. In der Renaissance wurden die Bezeichnungen „vivi animantis sectio“, „vivorum sectio“ und „viva sectio“ gebräuchlich, die gleichbedeutend sind. Von diesen Bezeichnungen leitet sich der heute gebrauchte Begriff „Vivisektion“ her, der aber nicht nur im Sinne eines operativen Eingriffs am lebenden Tier (oder Menschen) verstanden wird, sondern auch andere Arten von Tierversuchen einschließen kann.

Die ersten Eingriffe wurden vorgenommen, um Erkenntnisse über den Aufbau und die Funktionsweise des Körpers lebendiger Tiere zu erhalten. Dabei lag der Fokus insbesondere auf den Nerven, bei denen mittels der Eingriffe festgestellt werden konnte, dass es verschiedene Nervenarten gibt. Auch die Funktion der verschiedenen Nerven wurde untersucht. So zerschnitt Alkmaion von Kroton, der im 6. Jh. v. Chr. die wissenschaftliche Hirnforschung begründete, die Sehnerven lebendiger Tiere und konnte infolgedessen deren Erblindung feststellen. Dass es Stränge von Sehnerven gibt, die vom Auge zum Gehirn führen, hatte er zuvor festgestellt, indem er bei toten Tieren die Augäpfel herausgeschnitten hatte. Untersuchungen zu den Arten und Funktionsweisen der Nerven führten insbesondere auch Herophilos (um 330 – 250 v. Chr.) und Erasistratos (um 305-240 v. Chr.) durch, die in Alexandria (in Ägypten) wirkten, einer Hochburg der den Körper betreffenden Forschung. Ebenfalls Interesse am Aufbau und der Funktionsweise des Körpers hatte der Autor, der den zum Corpus Hippocraticum – einer Sammlung von 60 medizinischen Texten des 5.-2. Jhs. v. Chr. – gehörenden Text „Über das Herz“ verfasste. Er zerschnitt einem Schwein, das gefärbtes Wasser trank, die Kehle, um den Schluckvorgang zu untersuchen. Auch öffnete er den Brustkorb eines anderen lebenden Tieres und beschrieb, wie die Ventrikel und Aurikel des Herzens abwechselnd pulsieren. Alle diese Erkenntnisse setzten einen lebendigen Organismus voraus und hätten sich am toten Körper so nicht machen lassen. Zudem war man sich bewusst, dass in einem Körper nach dem Tod Veränderungen ablaufen, weshalb man sich nicht auf das Sezieren von Leichen beschränken wollte.

Der berühmte Arzt Galen von Pergamon, der Ende des 2. Jhs. n. Chr. wirkte, beschrieb die verschiedenen Techniken der Eingriffe am lebenden Tier und verbesserte sie. Mit seinen anatomischen Untersuchungen an Tieren und Beobachtungen der Körperfunktionen des Menschen schuf er ein umfassendes System der Medizin („Galenismus“), das mehrere Jahrhunderte die Heilkunde und das medizinische Denken und Handeln der Menschen bestimmte. Galen beschrieb die Verfahrensweisen bei der Vivisektion sehr nüchtern und riet zu einer ebenso nüchternen Vorgehensweise. So empfahl er in dem Kapitel über Eingriffe in das Gehirn lebender Tiere, den Versuch so durchzuführen, als erfolge er am toten Tier: Die forschende Person sollte mit dem Tier kein Mitleid oder Mitgefühl zeigen. Auch sollte sie sich von dem Blutfluss nicht abschrecken lassen, einen Versuch bis zum Ende durchzuziehen oder erneut durchzuführen. Galen ging der stoischen Philosophie entsprechend davon aus, dass Tiere keine Vernunftseele haben, und sprach ihnen damit sowohl Persönlichkeit als auch Rechte ab. Dies entsprach dem klassischen römischen Recht, das die Tiere als Sache ansah. Wenn Galen vor bestimmten Tierversuchen zurückschreckte, dann hatte dies also keine moralischen oder rechtlichen Gründe, sondern ästhetische. So empfahl er, für bestimmte Eingriffe im Gehirn Schweine oder Ziegen statt Affen zu benutzen, weil der Gesichtsausdruck letzterer bei dem Eingriff so unangenehm sei. Auch schreckte Galen davor zurück, Tieren ihr Sexualorgan zu zerschneiden, wenn sie sich in menschlich-aufrechter Position befanden.v

Am Erbe der Antike angeknüpft: Die Erforschung des tierischen und menschlichen Organismus in der frühen Neuzeit

Im Mittelalter verloren die Tierversuche an Bedeutung. Das Hauptinteresse der Menschen wandte sich vom Diesseits ab und richtete sich auf das Jenseits. Das Streben nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis verschwand zwar auch in dieser Zeit nicht ganz, jedoch wandelte sich das Weltbild: Die irdische Welt wurde insbesondere als Gottes Schöpfung angesehen und im Lichte der Heilsgeschichte und des endzeitlichen göttlichen Weltgerichtes betrachtet. Die irdische Welt rückte erst wieder in der frühen Neuzeit in den Vordergrund, als man im Zeitalter der Renaissance in Kunst, Architektur und Wissenschaft an das antike Erbe anknüpfte. Auf diesem Hintergrund erwachte auch wieder das Interesse an einer Erforschung des Aufbaus und der Funktionen des tierischen und menschlichen Körpers. So wurde die Renaissance die große Zeit der Anatomie.

Hinsichtlich der anatomischen Forschungen taten sich insbesondere Andreas Vesalius (1514-1564), Professor der Chirurgie und Anatomie an der Universität Padua, und Matteo Realdo Colombo (1516-1559), sein Schüler und Nachfolger auf dem Lehrstuhl, hervor. Die beiden Wissenschaftler sezierten bei ihren öffentlichen Vorträgen immer wieder lebende Tiere, wobei die Vivisektion zugleich den Schluss und den Höhepunkt der Vorträge darstellte. Dabei griffen sie auf die von Galen beschriebenen Techniken zurück, wobei sie manche Aussage Galens zum tierischen Körper und manche Übertragung auf den menschlichen kritisierten und korrigierten. Vesalius begründete die Notwendigkeit der Tierversuche damit, dass sie Einblicke in den tierischen Körper und indirekt auch in den menschlichen ermöglichten, und zudem chirurgische Fähigkeiten vermittelten. Ergänzt wurden die Tierversuche – und hier war Vesalius ein Pionier – in erster Linie durch das Sezieren von menschlichen Leichen.vi

Von naturwissenschaftlichem Forschergeist geprägtes Denken ist in Europa bis heute vorherrschend geblieben und liegt auch der Verteidigung der Tierversuche zugrunde. Versuche an Menschen wurden seit jeher entweder als „barbarisch“ abgetan oder erst als letzter Teil einer Versuchsabfolge durchgeführt. Bewusst oder unbewusst wurde – und wird auch heute noch – nach der Vorstellung verfahren, dass der Mensch die „Krone der Schöpfung“ und das Tier ihm untergeordnet sei.

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i Vgl. Jaguar und Schlange: der Kosmos der Indianer in Mittel- und Südamerika, hrsg. vom Niedersächsischen Landesmuseum Hannover, Völkerkunde und Ethnologisches Museum – Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Hannover 2000, S. 110-111.198-199.

ii Vgl. Richard H. Wilkinson: Die Welt der Götter im alten Ägypten: Glaube, Macht, Mythologie, Stuttgart 2003, S. 215-217; Das Geheimnis der Mumien: ewiges Leben am Nil, hrsg. vom Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, München – New York 1997, S. 57-63.

iii Vgl. Volker Sommer: Heilige Egoisten: die Soziobiologie indischer Tempelaffen, München 1996, S. 9-20.

iv Vgl. Brigitte Hülsewiede: Indiens heilige Kühe: in religiöser, ökologischer und entwicklungspolitischer Perspektive; Ergebnisse einer aktuellen ethnologischen Kontroverse (Theologische Studien 1), Münster 1986, S. 69-71; http://www.rajasthan-indien-reise.de/indien/tiere-heilige-kuh.html; http://www.deutschlandfunkkultur.de/heilige-kuh-in-indien-die-geschundene-goettin.979.de.html?dram:article_id=320433; http://www.deutschlandfunkkultur.de/indien-toedlicher-streit-um-die-heilige-kuh.1278.de.html?dram:article_id=334273 (jeweils 19.05.2017).

v Vgl. Andreas-Holger Maehle, Ulrich Tröhler: Animal Experimentation from Antiquity to the End of the Eighteenth Century: Attitudes and Arguments, in: N. A. Rupke [ed.], Vivisection in Historical Perspective, London – New York – Sydney 1990, S. 14-16; Galen, On Anatomical Procedures. The Later Books, ed. M. C. Lyons, B. Towers, Cambridge 1962, S. 15-17. Als weiteren Grund für die empfohlene Wahl von Schweinen oder Ziegen statt Affen führt Galen an, dass das Tier einen lauten Schrei ausstoßen solle. Das sei bei Schweinen und Ziegen der Fall, nicht aber bei Affen.

vi Vgl. Andreas-Holger Maehle, Ulrich Tröhler: Animal Experimentation from Antiquity to the End of the Eighteenth Century: Attitudes and Arguments, in: N. A. Rupke [ed.], Vivisection in Historical Perspective, London – New York – Sydney 1990, S. 16-19.