Die beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichtes von 1975 und 1993 machen deutlich, dass den Ungeborenen ein eigenständiges Lebensrecht zukommt und sie daher geschützt werden müssen. Laut dem Urteil von 1975 hat die Schwangere zwar Rechte, darf diese aber nicht zu Lasten des Ungeborenen durchsetzen. Die Rechte der Frau finden in den Rechten der Ungeborenen ihre Grenze. Der Staat ist gefordert, den Lebensschutz der Ungeborenen durchzusetzen, ist dabei aber nicht auf das Strafrecht festgelegt. Die Schwangere ist dem Grundsatz nach zur Austragung des Kindes verpflichtet. Bei unzumutbaren Belastungen der Schwangeren, zu denen insbesondere die Gefährdung ihrer Gesundheit gehört, steht ihr aber der Abbruch der Schwangerschaft offen. Eine Fristenlösung, bei der innerhalb einer bestimmten Frist der Schwangerschaftsabbruch erlaubt ist, ist nicht zulässig. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1993 bestätigt die Maßgaben des ersten Urteils von 1975 im Wesentlichen. Insofern ist eine gänzliche Legalisierung der Abtreibung verfassungswidrig. Sie verstößt gegen die Rechte der Ungeborenen.
Das Minderheitenvotum der Richterin Rupp–von Brünneck – der einzigen Frau im Richtergremium – und des Richters Simon geht ebenfalls vom Lebensrecht der Ungeborenen aus, kritisiert jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht seine Kompetenzen überschritten habe. Der Gesetzgeber müsse die Freiheit haben, zwischen verschiedenen Lösungen einschließlich der Fristenlösung zu wählen. Das Strafrecht sei nur als letztes Mittel einzusetzen, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht erreichbar ist.
Staatlicher Lebensschutz bezieht auch die Ungeborenen ein
„Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“; Art. 1 Abs. 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.“
Das Bundesverfassungsgericht macht zunächst einmal deutlich, dass die ausdrückliche Aufnahme des Rechts des Lebens in das Grundgesetz historische Gründe habe. Es handele sich um eine Reaktion auf die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, auf „Endlösung“ und „Liquidierung“, die vom nationalsozialistischen Regime als staatliche Maßnahmen durchgeführt wurden. Es handele sich um einen betonten Gegensatz zu einem politischen Regime, dem das einzelne Menschenleben wenig bedeutete.
„Jeder“ sei nicht auf das „fertige“, auf das geborene Menschenleben zu beschränken, sondern beziehe auch die Ungeborenen ein. Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums bestehe nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis vom 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation) an. Der damit begonnene Entwicklungsprozess sei ein kontinuierlicher Vorgang, der keine scharfen Einschnitte aufweise und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens nicht zulasse. Er sei auch nicht mit der Geburt beendet; die für die menschliche Persönlichkeit spezifischen Bewusstseinsphänomene beispielsweise träten erst längere Zeit nach der Geburt auf.
Unklar ist, ob das Bundesverfassungsgericht mit der Einbeziehung der Ungeborenen auf der Linie der „Väter und Mütter des Grundgesetzes“, des Parlamentarischen Rates, liegt. Sicher ist, dass sich der Parlamentarische Rat in der entscheidenden Abstimmung mehrheitlich gegen die ausdrückliche Nennung des „keimenden Lebens“ aussprach. Dies kann so gedeutet werden, dass es das ungeborene Leben nicht einbezogen sehen wollte, oder so, dass es dieses einbezogen sah, jedoch nicht ausdrücklich nennen wollte. Letzteres ist wahrscheinlicher, denn im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates wurde mehrheitlich die Meinung vertreten, dass das „keimende Leben“ einbezogen sei. Insofern ist davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht auf der Linie des Parlamentarischen Rates liegt. Zum Zeitpunkt, wann der Beginn des „keimenden Lebens“ anzusetzen ist, hat der Parlamentarische Rat jedoch keine Aussage gemacht.i
Der Lebensschutz ist auch gegenüber der Mutter durchzusetzen
„Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter.“
Unzweifelhaft begründe die natürliche Verbindung des ungeborenen Lebens mit dem der Mutter eine besonders geartete Beziehung, für die es in anderen Lebenssachverhalten keine Parallele gebe. Die Schwangerschaft gehöre zur Intimsphäre der Frau, deren Schutz durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgt sei. Wäre der Embryo nur als Teil des mütterlichen Organismus anzusehen, so würde auch der Schwangerschaftsabbruch in dem Bereich privater Lebensgestaltung verbleiben, in den einzudringen dem Gesetzgeber verwehrt sei. Da indessen das ungeborene Kind ein selbständiges menschliches Wesen sei, das unter dem Schutz der Verfassung stehe, komme dem Schwangerschaftsabbruch eine soziale Dimension zu, die ihn der Regelung durch den Staat zugänglich und bedürftig mache. Das Recht der Frau auf freie Entfaltung könne zwar ebenfalls Anerkennung und Schutz beanspruchen, jedoch sei dieses Recht nicht uneingeschränkt gewährt – die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung, das Sittengesetz begrenzten es.
Vorrang des Lebensschutzes der Ungeborenen vor Selbstbestimmungsrecht der Mutter
„Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.“
Die Rechtsordnung dürfe nicht das Selbstbestimmungsrecht der Frau zur alleinigen Richtschnur ihrer Regelungen machen. Der Staat müsse grundsätzlich von einer Pflicht zur Austragung der Schwangerschaft ausgehen, ihren Abbruch also grundsätzlich als Unrecht ansehen. In der Rechtsordnung müsse die Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs klar zum Ausdruck kommen. Es müsse der falsche Eindruck vermieden werden, als handle es sich beim Schwangerschaftsabbruch um den gleichen sozialen Vorgang wie etwa den Gang zum Arzt zwecks Heilung einer Krankheit oder gar um eine rechtlich irrelevante Alternative zur Empfängnisverhütung. Der Staat dürfe sich seiner Verantwortung auch nicht durch Anerkennung eines „rechtsfreien Raumes“ entziehen, indem er sich der Wertung enthält und diese der eigenverantwortlichen Entscheidung des Einzelnen überlässt.
Strafrecht nicht einziges Mittel der Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs
„Der Gesetzgeber kann die grundgesetzlich gebotene rechtliche Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung. Entscheidend ist, ob die Gesamtheit der dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden Maßnahmen einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleistet. Im äußersten Falle, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen.“
Wie der Staat seine Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des sich entwickelnden Lebens erfüllt, sei in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden. Er befinde darüber, welche Schutzmaßnahmen er für zweckdienlich und geboten hält, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten.
Gründe einer Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Schwangerschaft
„Eine Fortsetzung der Schwangerschaft ist unzumutbar, wenn der Abbruch erforderlich ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden. Darüber hinaus steht es dem Gesetzgeber frei, andere außergewöhnliche Belastungen für die Schwangere, die ähnlich schwer wiegen, als unzumutbar zu werten und in diesen Fällen den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu lassen.“
Laut Bundesverfassungsgericht habe der bisherige § 218 StGB, gerade weil er für nahezu alle Fälle des Schwangerschaftsabbruchs undifferenziert Strafe angedroht habe, das sich entwickelnde Leben im Ergebnis nur unzureichend geschützt. Die Einsicht, dass es Fälle gibt, in denen die strafrechtliche Sanktion unangemessen ist, habe schließlich dazu geführt, dass auch wirklich strafwürdige Fälle nicht mehr mit der notwendigen Strenge verfolgt werden. Die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche sei in der Bundesrepublik hoch. Aus diesen Gründen nennt das Bundesverfassungsgericht Umstände, bei denen die Fortsetzung der Schwangerschaft als unzumutbar angesehen werden könne. In diesen Fällen solle der Schwangerschaftsabbruch nicht bestraft werden.
Fristenlösung nicht verfassungsgemäß
„Das Fünfte Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) ist der verfassungsrechtlichen Verpflichtung, das werdende Leben zu schützen, nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden.“
Beanstandet wurde vom Bundesverfassungsgericht insbesondere, dass laut dem 5. Strafrechtsreformgesetzes ein Schwangerschaftsabbruch nicht strafbar war, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen waren („Fristenlösung“), die Schwangere zugestimmt hatte und der Eingriff von einem Arzt vorgenommen worden war.
Rechtfertigende Hinweise auf die „Liberalisierung“ oder „Modernisierung“ des Abtreibungsrechts in anderen Ländern ließ das Bundesverfassungsgericht nicht gelten. Abgesehen davon, dass alle diese ausländischen Regelungen in ihren eigenen Ländern stark umstritten seien, unterschieden sich die rechtlichen Maßstäbe, die dort für das Handeln des Gesetzgebers gelten, wesentlich von denen der Bundesrepublik Deutschland.
Das abweichende Votum der Richterin Rupp – von Brünneck und des Richters Simon
Die Richterin Wiltraut Rupp – von Brünneck, die einzige Frau im Richtergremium, und der Richter Helmut Simon folgten dem Mehrheitsbeschluss nicht. In ihrem Minderheitenvotum kritisierten sie den Mehrheitsbeschluss scharf.
Zunächst machten sie deutlich, dass das Leben jedes einzelnen Menschen selbstverständlich ein zentraler Wert der Rechtsordnung sei. Unbestritten umfasse die verfassungsrechtliche Pflicht zum Schutz dieses Lebens auch seine Vorstufe vor der Geburt. Die Auseinandersetzungen im Parlament und vor dem Bundesverfassungsgericht hätten nicht das Ob, sondern allein das Wie dieses Schutzes betroffen. Die Entscheidung hierüber gehöre in die Verantwortung des Gesetzgebers, das Bundesverfassungsgericht habe also mit seinem Beschluss seine Kompetenzen überschritten. Der Gesetzgeber hätte sich sowohl für die Beratungs- und Fristenregelung als auch für die Indikationenregelung entscheiden dürfen. Der Gesetzgeber habe mit Recht und im Einklang mit den Reformen in anderen westlichen Kulturstaaten sozialpolitischen Maßnahmen den Vorrang vor weitgehend wirkungslosen Strafdrohungen gegeben. Aus der Verfassung könne unter keinen Umständen eine Pflicht des Staates hergeleitet werden, den Schwangerschaftsabbruch in jedem Stadium der Schwangerschaft unter Strafe zu stellen. Geeignete Mittel zur Abhilfe seien angesichts des bisherigen Versagens der Strafsanktion im sozialen und gesellschaftlichen Bereich zu suchen. Auch gemäß der Mehrheit des Bundesverfassungsgerichtes dürfe der Gesetzgeber nach dem rechtsstaatlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit von dem Mittel der Strafe nur behutsam und zurückhaltend Gebrauch machen. Es sei als letztes Mittel einzusetzen, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen ist. Selbstverständlich seien unmotivierte Schwangerschaftsabbrüche ethisch verwerflich. Aber das Absehen von Strafe dränge nicht den Schluss auf, ein nicht mehr strafbares Verhalten werde gebilligt.
Die zunächst eindrucksvollen Ausführungen über den unbestrittenen hohen Rang des Lebensschutzes vernachlässigten die Singularität des Schwangerschaftsabbruchs im Verhältnis zu anderen Gefährdungen menschliches Lebens. In der europäischen, kirchlich beeinflussten Rechtsgeschichte sei stets zwischen geborenem und ungeborenem Leben unterschieden worden. Abtreibung könne insofern nicht mit der Tötung eines bereits geborenen Menschen gleichgestellt werden. Darüber hinaus sei zu beachten, dass von der Schwangeren mehr als ein Unterlassen gefordert werde. Sie solle nicht nur die mit dem Austragen der Leibesfrucht verbundenen tiefgreifenden Veränderungen ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens dulden, sondern auch die Eingriffe in ihre Lebensgestaltung hinnehmen, die sich aus Schwangerschaft und Geburt ergeben, besonders die mütterliche Verantwortung für die weitere Entwicklung des Kindes nach der Geburt tragen. Anders als bei Tötungsdelikten wie Mord oder Totschlag könne und müsse der Gesetzgeber ferner davon ausgehen, dass das ungeborene Kind am wirksamsten durch die Mutter selbst geschützt wird und dass deren Bereitschaft zum Austragen der Leibesfrucht durch Maßnahmen verschiedenster Art gestärkt werden kann.ii
i Vgl. Rainer Beckmann, Der Parlamentarische Rat und das „keimende Leben“, Der Staat 47/4 (2008), 551-572.
ii Der Wortlaut des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und des abweichenden Votums ist unter https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv039001.html aufrufbar (aufgerufen am 21.01.2022). Eine knappe Zusammenfassung des Urteils und des Sondervotums bieten Dirk von Behren, Die Geschichte des § 218 StGB (Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte), Tübingen 2004, 475-482 und Sabine Berghahn, Weichenstellungen in Karlsruhe – Die deutsche Reform des Abtreibungsrechts, in: U. Busch, D. Hahn [Hrsg.], Abtreibung: Diskurse und Tendenzen, Bielefeld 2015, 166-169; ausführlicher dazu Manfred Kindl, Philosophische Bewertungsmöglichkeiten der Abtreibung (Philosophische Schriften 18), Berlin 1996, 115-125. Zu Wiltraut Rupp – von Brünneck siehe https://www.leo-bw.de/web/guest/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/126351244/biografie (aufgerufen am 21.01.2022).