Eine lebendige Demokratie ist das beste Mittel gegen Politikerverdrossenheit bzw. Politikverdrossenheit. Doch wie lässt sich die Demokratie lebendig gestalten? Eine Demokratie kann aus verschiedenen Elementen bestehen, und zwar aus repräsentativen, direktdemokratischen und dialogischen Elementen. In einer vielfältigen Demokratie haben alle diese Elemente ihren Platz. Sie haben jeweils Vor- und Nachteile. Es gilt, die verschiedenen Elemente an der richtigen Stelle einzusetzen und miteinander zu verzahnen.
Das Zusammenspiel von repräsentativer und direkter Demokratie
Die repräsentative Demokratie ist die über viele Jahrzehnte eingeübte und legitimierte Demokratieform in Deutschland. Diejenigen Bürger, die als Abgeordnete in die Parlamente einziehen und dort stellvertretend für das (Wahl-)Volk die Entscheidungen treffen, werden mittels Wahlen bestimmt. Die Abgeordneten vertreten (= repräsentieren) also das (Wahl-)Volk. Das (Wahl-)Volk regiert nicht selbst, sondern lässt regieren. Die Abgeordneten sind als gewählte Volksvertreter legitimiert, mit entsprechenden parlamentarischen Mehrheiten zu Entscheidungen zu kommen. Dazu haben sie sogar explizit den Auftrag erhalten. Zur Erfüllung ihres Auftrags stehen den Abgeordneten – insbesondere den Bundestagsabgeordneten – hervorragende Möglichkeiten zur Verfügung, sich über politische Sachverhalte und über die Abstimmungsgegenstände zu informieren. Dazu gehört auch, dass sie auf die Expertise der Fachverwaltungen zurückgreifen können.
Dennoch kann seitens der Bevölkerung aus verschiedenen Gründen Unmut über ausbleibende Beschlüsse oder falsche Beschlüsse aufkommen. Dann kommen – sofern die Mittel existieren – auch in einer repräsentativen Demokratie direktdemokratische Verfahren zum Zuge. Bei diesen greifen die Bürger mittels Abstimmungen in die Gesetzgebung ein. Die direktdemokratischen Verfahren haben korrigierenden Charakter, sei es, dass die Bürger initiativ tätig werden und ein Gesetzgebungsvorhaben anstoßen, sei es, dass sie Entscheidungen des Parlaments einkassieren (oder bestätigen). Bei Bürger- und Volksentscheiden fokussieren sich die Bürger zeitlich und thematisch begrenzt auf eine Sache. Sie werden dazu herausgefordert, sich zu informieren und zu engagieren. Diesen Vorteilen stehen als Nachteile gegenüber, dass eine ausreichende Information sichergestellt werden muss, durch vereinfachende Ja-Nein-Entscheidungen einer Polarisierung Vorschub geleistet wird und Konflikte zwischen den verschiedenen Akteuren nicht unbedingt befriedet werden.
In verschiedener Hinsicht ähneln sich die parlamentarische und die direkte Demokratie: So werden Wahlen wie Bürger- und Volksentscheide durch Abstimmung entschieden. Jeweils ist der Gewinn von Mehrheiten das Ziel. Dabei stehen die Akteure in einem Konkurrenzverhältnis. Die Kommunikation ist darauf ausgerichtet, Massen an Bürgern zu überzeugen. Sowohl bei Wahlen als auch bei Bürger- und Volksentscheiden besteht ein allgemeines Teilnahmerecht (seitens der wahl- bzw. abstimmungsberechtigten Bürger). Die Ergebnisse von Wahlen sind grundsätzlich verbindlich, die Ergebnisse von Bürger- und Volksentscheiden in den meisten Fällen. Sowohl repräsentative als auch direktdemokratische Verfahren genießen hohe Akzeptanz. Wo liegen nun die Besonderheiten und die Berechtigung dialogischer Verfahren?i
Der Dialog
Der Begriff „Dialog“ setzt sich aus den beiden griechischen Wörtern „dia“ und „logos“ zusammen. „Dia“ bedeutet „durch“ und „logos“ bedeutet „Wort“ oder „Rede“. Durch Worte geschieht also etwas. Irrtümlich wird unter einem Dialog häufig ein Zwiegespräch verstanden, also ein Gespräch, das zwei Personen miteinander führen. Tatsächlich ist ein Dialog jedoch mehr. Zum einen können mehr als zwei Personen einen Dialog führen. Zum anderen handelt es sich um eine ganz bestimmte Art des Gesprächs.
Ein Dialog ist im Gegensatz zur Diskussion nicht von dem Bemühen geprägt, den oder die anderen Gesprächsteilnehmer vom eigenen Standpunkt überzeugen zu wollen. Vielmehr geht es im Dialog um Begegnung und Austausch. Dieser ist von einer offenen und respektvollen Haltung geprägt. Es geht darum, Vorurteile und Missverständnisse auszuräumen, sich gegenseitig zu verstehen, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und auf diese Weise Konflikte zu mindern. All dies geschieht durch Worte, durch das gemeinsame Gespräch.
Die Besonderheiten dialogischer Verfahren in der Demokratie
Anders als repräsentative und direktdemokratische Verfahren gründen dialogische Verfahren nicht auf Konkurrenz und Konfrontation. Es wird nicht gegeneinander agiert, sondern miteinander. Ziel ist nicht das Erzielen einer Mehrheit, der Sieg in einer Abstimmung, sondern ein Konsens. Dieser wird nicht mit einer vereinfachende Aufteilung in Ja und Nein erreicht, auch nicht mit Zuspitzung und Emotionen. Vielmehr ist die Herangehensweise sachlich und differenziert. Es werden Gemeinsamkeiten gesucht, aber auch Unterschiede benannt. Der Konsens wird also nicht im Hinblick auf das Gesamte, sondern im Hinblick auf ganz bestimmte Teilaspekte gefunden. An diesen kann dann angeknüpft werden.
Dialogische Verfahren schließen nur einen Teil der Akteure ein und ihre Ergebnisse sind auch nicht bindend. Sie haben in erster Linie beratende und vorbereitende Funktion. Sie stehen also nicht für sich, sondern erfolgen im Zusammenspiel mit repräsentativen und direktdemokratischen Verfahren.
Voraussetzungen erfolgreicher dialogischer Verfahren
Damit dialogische Verfahren erfolgreich sind, müssen verschiedene Punkte beachtet werden. Zunächst einmal muss seitens der gewählten Volksvertreter der Wille zum Dialog vorhanden sein. Das Verfahren ist ergebnisoffen, was von den beteiligten Akteuren eine offene und konstruktive Grundhaltung erfordert. Es werden klare Spielregeln festgelegt, an die sich alle Akteure zu halten haben. Dann bedarf es des richtigen Timings. Frühzeitig angesetzte Dialogverfahren können Konflikte vermeiden, weshalb im Optimalfall das Dialogverfahren einer Abstimmung vorausgeht. Allerdings kann das Dialogverfahren auch nach einem kassierenden Bürger- oder Volksentscheid durchgeführt werden, womit es vorwiegend als Reparaturmaßnahme dient. Meinungsvielfalt ist zuzulassen und zu dokumentieren. Alle Beteiligten müssen mit den notwendigen Informationen versorgt werden. Das Verfahren muss transparent sein. Darüber hinaus müssen die Informationen, auf deren Grundlage die Argumente abgewägt werden, vollständig, ausgewogen, sachlich, verständlich und transparent sein. Ziel eines Dialogverfahrens ist es, zu einer einvernehmlichen Lösung für alle Beteiligten zu kommen. Das erfordert rechtliche Flexibilität, z. B. die Möglichkeit, auf einen Bürger- oder Volksentscheid zu verzichten.ii
Verschiedene Modelle der Anwendung dialogischer Verfahren
Es gibt vier Modelle der Verknüpfung dialogischer Verfahren mit repräsentativen oder direktdemokratischen Verfahren. Beim ersten Modell wird eine parlamentarische Entscheidung vorbereitet. Parlamente treffen ihre Entscheidungen mitunter unter Zeitdruck, sodass nicht alle relevanten Interessen und Aspekte berücksichtigt werden. Durch die Vorbereitung einer Entscheidung durch ein Bürgerbeteiligungsverfahren kann die „Weisheit der Vielen“ fruchtbar gemacht werden. An einem Tisch versammelte Bürger beleuchten nach verbindlichen Regeln die unterschiedlichen Sachverhalte, wägen Argumente ab und erarbeiten Empfehlungen. Auf deren Grundlage setzt das Parlament anschließend seine Beratungen fort und trifft seine Entscheidung.
Bei dem zweiten Modell wird ein Bürger- oder Volksentscheid vorbereitet. Das Verfahren entspricht demjenigen des ersten Modells, mit dem Unterschied, dass die Empfehlungen am Ende die Grundlage für einen Bürger- oder Volksentscheid bilden. Ein Beispiel für dieses Verfahren ist die Bürgerversammlung (Citizens’ Assemply) in Irland. Die Bürgerversammlung legt nach eingehenden Beratungen dem Parlament einen Schlussbericht und Empfehlungen vor, die auch den Bürgern kommuniziert werden. Auf Grundlage der Empfehlungen erfolgt ein Volksentscheid. Dessen Ergebnis dient wiederum dem Parlament als Richtschnur für die Erarbeitung gesetzlicher Regelungen.
Einem erfolgreichen Bürger- oder Volksbegehren muss eigentlich ein Bürger- oder Volksentscheid folgen. Da der Abstimmungskampf zu Spaltungen in der Bevölkerung führen kann, kann es besser sein, mittels eines dialogischen Verfahrens den Bürger- oder Volksentscheid zu vermeiden. Dann kommt das dritte Modell zum Tragen. Politik, Verwaltung und Bürger erarbeiten gemeinsam einen Vorschlag. Ergebnis des Dialogs kann die Bitte sein, das Anliegen der Initiatoren des Bürger- oder Volksbegehrens unverändert zu übernehmen. Die Bürger können aber auch einen Kompromiss erarbeiten oder eine alternative Lösung finden, der sich das Parlament und die Initiatoren anschließen. Das Einverständnis der Initiatoren mit dem Ergebnis und Parlamentsbeschluss ist die Voraussetzung dafür, dass ein Bürger- oder Volksentscheid entfallen kann.
Wenn ein Bürger- oder Volksentscheid eine Entscheidung des Parlaments zurückgenommen hat, können neue Fragen und Probleme entstehen. Insbesondere bei einem knappen Ergebnis des Entscheids kann der Konflikt weiter schwelen. Dann kann das Parlament beschließen, einen breiten Dialog mit den Bürgern durchzuführen, um eine Lösung zu finden – eine Lösung, die auf mehr Akzeptanz trifft als die ursprüngliche parlamentarische Entscheidung. Das Ergebnis des Dialogs übernimmt das Parlament per Beschluss. Dieses Verfahren ist das vierte Modell.iii
i Repräsentative, direkte und dialogische Beteiligungsverfahren im Vergleich siehe Allianz Vielfältige Demokratie [Hrsg.], Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen, Gütersloh 2018, 10-15.
ii Zehn Punkte für ein erfolgreiches Zusammenwirken dialogischer und direktdemokratischer Verfahren finden sich in Allianz Vielfältige Demokratie [Hrsg.], Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen, Gütersloh 2018, 26-27.
iii Die vier Modelle einer konstruktiven Verknüpfung mehrerer Beteiligungsverfahren werden in Allianz Vielfältige Demokratie [Hrsg.], Bürgerbeteiligung, Volksabstimmungen, Parlamentsentscheidungen, Gütersloh 2018, 18-21 vorgestellt.