Das griechische Wort „Demokratie“ bedeutet „Volksherrschaft“. Dabei gibt es verschiedene Formen der Demokratie. Ganz grob lässt sich zwischen repräsentativer und direkter Demokratie unterscheiden. In einer repräsentativen Demokratie wird die Staatsgewalt durch gewählte Volksvertreter ausgeübt. Außerdem gibt es zur Ausübung der Staatsgewalt die benötigten Organe. In einer direkten Demokratie übt das Volk mittels Volksentscheiden direkt die Staatsgewalt aus. Die modernen Demokratien sind gewöhnlich repräsentative Demokratien, in denen aber das Volk in unterschiedlichem Maße auch direkt die Staatsgewalt ausüben kann.

Aber was ist denn eigentlich die ursprüngliche Form der Demokratie? Gemeinhin wird Athen als die „Wiege der Demokratie“ betrachtet. Daher liegt es nahe, mit Blick auf die Streitfrage „Bundesweite Volksentscheide einführen?“ einmal die athenische Demokratie unter die Lupe zu nehmen. Man kann Athen als eine „direkte Demokratie“ bezeichnen, denn den Volksabstimmungen kam eine ganz zentrale Rolle zu. Allerdings ist die athenische Demokratie wegen ihrer Eigenheiten nur sehr begrenzt auf die heutige Bundesrepublik übertragbar.

Die Bedeutung des Begriffs „Demokratie“

„Demokratie“ ist ein Fremdwort. Das altgriechische Wort „dêmokratia“ setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: Der erste Bestandteil ist das Substantiv „dêmos“, der zweite Bestandteil das Substantiv „kratos“. Das Substantiv „dêmos“ bedeutet „Volk“ und das Substantiv „kratos“ bedeutet „Macht/Kraft/Herrschaft“. Bei der „dêmokratia“, der „Demokratie“, handelt es sich also um eine „Volksherrschaft“.

Der griechische Begriff „dêmos“ enthält eine Ambivalenz: Zum einen kann er das gesamte Volk meinen, zum anderen aber auch das „gewöhnliche“ Volk im Gegensatz zur Oberschicht. Eine Demokratie war also nach athenischem Verständnis die Herrschaft des gesamten Volkes oder die Herrschaft des „gewöhnlichen“ Volkes.

Herrschaft in vordemokratischer Zeit: Aristokratie,Tyrannei und Timokratie

In der ganz frühen, vorsolonischen Zeit wurde Athen, wie die meisten griechischen Staaten damals auch, von einer Gruppe vornehmer Familien beherrscht. Diese bildeten den Adel. Die athenischen vornehmen Familien teilten ihre Lebensweise und Wertewelt und darunter auch ihre politischen Vorstellungen mit dem Adel in den anderen griechischen Staaten, wobei die Beziehungen zu den außerathenischen Geschlechtern eng waren. Sie waren reich und angesehen, hatten Grundbesitz, den sie verpachten konnten, besaßen Handwerksbetriebe und trieben Handel. Die Pächter, Lohnarbeiter und Sklaven waren von den vornehmen Familien abhängig. Sie hatten ebenso wie die freien Bauern keinerlei politische Entscheidungsgewalt.

Die politische Entscheidungsgewalt lag allein bei den vornehmen Familien. Die führenden Adligen kamen regelmäßig zu Sitzungen in einem Adelsrat, im sogenannten „Areopag“, zusammen. Der Areopag war das oberste Gericht und vertrat den Staat gegenüber dem Ausland. Die zentralen Ämter, nämlich die neun Archonten, wurden nur von Adligen besetzt. Die Herrschaft der Vornehmen wird als „Aristokratie“ bezeichnet, das sich wie das Wort „Demokratie“ aus dem Altgriechischen herleitet. Das Substantiv „aristos“ bedeutet „Vornehmer“ und das Substantiv „kratos“ bedeutet „Macht/Kraft/Herrschaft“.

Im 7. Jahrhundert v. Chr. geriet die Adelswelt aus verschiedenen Gründen in eine Krise, mit der eine große Unruhe verbunden war. Die Unruhe ging auch von den überschuldeten Abhängigen der Adligen aus, die die sozialen Umstände und die Urteile als ungerecht empfanden.Die Unruhe führte dazu, dass in verschiedenen Städten das Gewohnheitsrecht aufgezeichnet wurde. In Athen geschah dies um 624 v. Chr. durch Drakon. Außerdem rissen einzelne Adlige in Kämpfen die Macht an sich und führten Ruhe herbei. Ein Adliger, der die Macht ohne Rücksicht auf Recht oder Erbfolge an sich gerissen hatte, wurde als „Tyrann“ bezeichnet, vom altgriechischen Begriff „tyrannos“, der „Alleinherrscher“oder „Gewaltherrscher“ bedeutet.

Die Einwohner Athens wollten sich nicht einem Tyrannen unterwerfen, wünschten sich aber einen starken Mann, der die beiden verfeindeten Lager der Adligen auf der einen Seite und Bauern (und Handwerker) wieder versöhnen sollte. Nicht der Umsturz war ihr Ziel, sondern eine Reform. So wählten sie 594 v. Chr. Solon zum Schiedsrichter und Versöhner und gaben ihm uneingeschränkte Macht. Solon war ein Adliger, besaß aber kein großes Vermögen. Solon entlastete zunächst einmal die Bauernschaft von den erdrückenden Abgaben an die Adligen. Dann verknüpfte er die politischen Rechte mit dem Besitz und Vermögen, wobei er vier verschiedene Vermögensklassen mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten schuf. Damit brach er mit der Vergangenheit, da von nun an der politische Einfluss nicht mehr an die Herkunft, an die Zugehörigkeit zum Adel geknüpft war. Die Herrschaft der Reichen wird als „Timokratie“ bezeichnet, das sich ebenfalls aus dem Altgriechischen herleitet. Das Substantiv „timê“ bedeutet „Abschätzung“ und das Substantiv „kratos“ bedeutet „Macht/Kraft/Herrschaft“.

Die Verfassung Solons beruhigte aber nur kurz die gesellschaftlichen Spannungen. Zu groß war das Bestreben der vornehmen Familien, die ursprünglichen Rechte zurück zu erlangen. Und die von Solon mit politischer Kraft ausgestatteten Bauern und wohlhabenden Handwerker suchten ihre neu erworbene Stellung zu behaupten oder weiter auszubauen. In dieser Lage, die in verschärfter Form die Lage vor Solon heraufbeschwor, konnte sich ein Adliger namens Peisistratos zum Tyrannen aufschwingen. Peisistratos war kein Gewaltherrscher im Sinne der späteren Vorstellung vom Tyrannen. Er rührte die formale Ordnung, die Solon geschaffen hatte, nicht an. Auch die Institutionen und Gesetze behielten ihre Gültigkeit. Peisistratos übernahm auch kein Amt, wobei sich das Archontat durchaus angeboten hätte. Er stand vielmehr als stillschweigend geduldeter Herrscher gleichsam neben der Ordnung, die er aufgrund seiner militärisch abgestützten Macht dirigierte und manipulierte. So sorgte er dafür, dass ihm nahe stehende Bürger zu Archonten gewählt wurden. Peisistratos starb 528 (oder: 527) v. Chr. Nach seinem Tod regierten seine Söhne noch bis 510 v. Chr.

Die Entstehung der athenischen Demokratie

Nachdem die Söhne des Peisistratos aus Athen vertrieben waren, kam es zu einem Parteienstreit zwischen zwei Aristokraten. Auf der einen Seite stand ein Mann namens Isagoras, der vom spartanischen König Kleomenes I. unterstützt wurde. Auf der anderen Seite stand Kleisthenes, ein Angehöriger des Adelsgeschlechtes der Alkmaioniden, der die Mehrheit der Athener und das Heer auf seine Seite bringen und so den Parteienstreit für sich entscheiden konnte.

Die ständig aufflammenden Streitigkeiten zwischen vornehmen Geschlechtern hatten ihren Grund in einem Regionalismus. Die einflussreichen Familien hatten ihren Grundbesitz und ihre Kultstätten in einem bestimmten Gebiet. Die politische und militärische Organisation der Halbinsel Attika mit Athen, der wichtigsten Stadt, richtete sich nach den Wohn- und Einflussgebieten dieser einflussreichen Familien. So handelte es sich bei den 4 Phylen, in die Attika eingeteilt war, um Personenverbände. Die 4 Phylen waren wiederum in insgesamt 12 Trittyen (Trittys = Drittel) und 48 Naukrarien unterteilt. Kleisthenes reformierte nach seinem Sieg die Phylenordnung, indem er aus den Personenverbänden mit einflussreichen Männern an der Spitze lokale Bezirke machte.

Kleisthenes „mischte“ die Bewohner Attikas. Zunächst einmal unterteilte er die Halbinsel Attika in drei geographische Bereiche: Stadt, Binnenland und Küste. Diese geographischen Bereiche waren viel zu groß und landschaftlich zu sehr gegliedert, als dass sie mit einem vornehmen Geschlecht oder einer sozialen Gruppe wie Händler, Kleinbauer, Großbauer oder Handwerker hätten gleichgesetzt werden können. Jeden einzelnen geographischen Bereich untergliederte Kleisthenes in 10 Trittyen. Per Los setzte Kleisthenes nun 3 Trittyen – je eine aus jedem der drei geographischen Bereiche – zu einer Phyle zusammen. Bei insgesamt 30 Trittyen machte das 10 Phylen. Die Phylen waren nicht unbedingt zusammenhängende Gebiete, sondern ihre Phylen konnten geographisch verteilt sein. So wurde sichergestellt, dass die soziale Zusammensetzung der Phylen bunt gemischt war. Damit den Trittyen möglichst gleich viele erwachsene Männer angehörten, wurden die Dörfer und kleinen Städte, die als „Demen“ bezeichnet wurden, entsprechend auf die Trittyen aufgeteilt.

Von nun an wurden die Beamten nach Phylen gewählt, ebenso der Rat der 500, in den jede Phyle 50 Männer entsandte. Und jede Phyle stellte dem Heer ein Regiment (zunächst etwa 1000 Personen), das von einem Strategen aus der Phyle befehligt wurde. Die Strategen wurden von der Volksversammlung gewählt. Politische Rechte standen nur den – ausschließlich männlichen und mindestens 18 Jahre alten – Bürgern zu, nicht Sklaven, Metöken (= Fremden) und Frauen. Dabei hatten alle Bürger die gleichen Rechte. Die politischen Institutionen waren die Volksversammlung, der Rat der 500 und die Amtsträger. Daneben gab es auch noch die Volksgerichte, die jedoch keine Institution im eigentlichen Sinne darstellten. Die Volksversammlung und der Rat der 500 sind zentrale Pfeiler der athenischen Demokratie und im Hinblick auf heutige Volksentscheide von besonderem Interesse, weshalb auf sie genauer eingegangen werden soll.

Die Volksversammlung

An den Volksversammlungen – der altgriechische Begriff für „Volksversammlung“ ist ekklêsia“ – konnten alle Bürger teilnehmen. Für bestimmte wichtige Abstimmungen war die Anwesenheit von mindestens 6.000 Bürgern, die das gesamte Volk repräsentierten, erforderlich. Zu diesen wichtigen Beschlüssen gehörte der Ostrakismos, das Scherbengericht. Wenn vermutet wurde, dass jemand als Tyrann die Macht an sich reißen wollte, konnte der Verdächtige mittels des Scherbengerichtes für zehn Jahre aus Athen verbannt werden.

Volksversammlungen fanden mindestens drei- bis viermal im Monat statt. Versammlungsort war (seit den Reformen des Ephialtes 462/461 v. Chr.) normalerweise die Pnyx, ein niedriger, etwa 400 Meter von der Agora entfernter Hügel. Die Teilnahme an den Volksversammlungen war sehr rege und es waren im Normalfall mehr als 6.000 stimmberechtigte Bürger anwesend. Bei schätzungsweise 30.000 – 50.000 stimmberechtigten Bürgern bedeutet das, dass meist rund 20 % der Stimmberechtigten anwesend waren. Die Anreise zur Volksversammlung konnte mehrere Stunden in Anspruch nehmen, denn zu Athen gehörte nicht nur die Stadt selbst, sondern auch das Umland. Praktisch ausgeschlossen waren diejenigen, die in den Randgebieten des Umlandes wohnten und für die Anreise und Abreise jeweils bis zu 50 Kilometer zurücklegen mussten. Insofern ist die hohe Anwesenheitsquote erstaunlich und zeigt, wie wichtig den Athenern ihre Demokratie war. Ein Grund für die hohe Beteiligung dürfte auch darin liegen, dass die Sitzungen gut vorbereitet waren. Routineangelegenheiten konnten so schnell abgehandelt werden, dass man oft schon am Mittag auseinanderging.

Die Volksversammlung durfte über alles diskutieren und beschließen. Es gab also keine Tabuthemen, die ausgeschlossen waren. In den Volksversammlungen wurden nicht nur vorformulierte Anträge abgestimmt, sondern man durfte eingebrachte Anträge auch abwandeln oder neue Anträge stellen. Abgestimmt wurde in der Regel offen durch Handerheben, es gab aber auch geheime Abstimmungen mit Stimmsteinen. Bei der Größe der Volksversammlung war für den reibungslosen Ablauf ein hohes Maß an Disziplin erforderlich.

Für die Teilnahme an den Volksversammlungen bekamen die stimmberechtigten Bürger bis ins 5. Jh. v. Chr. kein Geld. Insofern setzte die Teilnahme voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert war. Wenn Volksversammlungen schon am Mittag beendet und der Anreiseweg nicht viele Stunden in Anspruch nahm, konnte auch an Versammlungstagen noch einige Stunden lang der Arbeit nachgegangen werden. Viele Athener besaßen Sklaven, was ihnen die Teilnahme an den Volksversammlungen erleichterte. Vom 4. Jh. v. Chr. an wurde den Anwesenden eine Geldzahlung gewährt, die in etwa dem entgangenen Einkommen entsprach. Das begünstigte die Teilnahme der ärmeren Bevölkerungsschichten und leistete der Ansicht Vorschub, dass es sich bei der Demokratie um die Herrschaft des „einfachen“ Volkes handele.

Der Rat der 500

Der Rat der 500 – die altgriechische Bezeichnung für diesen Rat ist boulê – bereitete die Volksversammlungen vor. Er legte die Tagesordnung fest und formulierte die Beschlussvorlagen. Dazu musste er fast täglich zusammentreten. Bei dieser Gelegenheit wurde auch noch eine Menge anderer Angelegenheiten erledigt: So empfing der Rat der 500 auswärtige Gesandte, beaufsichtigte Beamte und kümmerte sich um Finanzangelegenheiten. Kurzum: Er war für die laufenden Geschäfte zuständig und somit eine Art Regierung.

Damit kam dem Rat der 500 eine erhebliche Machtfülle zu. Um zu verhindern, dass der Rat der 500 neben der Volksversammlung ein politisches Eigenleben führte, wurde die Amtszeit der Ratsmitglieder auf ein Jahr begrenzt. Außerdem wurden die Ratsmitglieder aus über 30jährigen Freiwilligen der einzelnen Phylen gelost. Man durfte ursprünglich nur einmal im Leben Ratsmitglied werden. Da es sehr schwer war, auf Dauer eine ausreichende Anzahl Freiwillige zu finden, wurde eine zweite Amtszeit erlaubt. Diese durfte aber nicht an die erste Amtszeit unmittelbar anschließen.

Damit kam nahezu jeder über 30jährige Bürger an die Reihe. Damit dies für die ärmeren Schichten der Bevölkerung nicht zu einer Belastung wurde, zahlte man den Ratsherren schon früh eine Aufwandsentschädigung. Von den Ratsherren war zu erwarten, dass sie an den Volksversammlungen teilnahmen.

Der Rat der 500 wurde von einem geschäftsführenden Ausschuss, Prytanie genannt, geleitet. Ihm gehörten für jeweils ein Zehntel des Jahres die 50 Ratsherren einer Phyle an, aus denen jeden Tag neu ein Vorsitzender erlost wurde. Dieser Vorsitzende war dann für den einen Tag gleichsam das Staatsoberhaupt. Zu den Aufgaben des geschäftsführenden Ausschusses gehörte insbesondere die Einberufung der Volksversammlungen.i

Athenische Demokratie: Vorbild für bundesweite Volksentscheide?

Athen war eine unmittelbare, eine direkte Demokratie. Es wurden also keine Volksvertreter gewählt, mit dem Auftrag, stellvertretend für das Volk zu entscheiden. In der Antike hätte jedoch niemand von einer „direkten Demokratie“ gesprochen, weil „Demokratie“ im Sinne der athenischen Demokratie verstanden wurde. Die Unterscheidung zwischen „direkte Demokratie“ und „repräsentative Demokratie“ wurde erst später gemacht, nachdem verschiedene Arten der Demokratie entstanden waren.

In Athen hat die Demokratie mit ihren Volksversammlungen gut funktioniert. Angesichts dieser Tatsache liegt es nahe, die athenische Demokratie als Beweis dafür anzuführen, dass Volksentscheide eine gute Sache sind. Daraus könnte man schlussfolgern, dass sie auch auf Bundesebene eingeführt werden sollten. Allerdings kann die athenische Demokratie nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen werden.

Zunächst einmal war Athen viel kleiner als es Deutschland heute ist. Deutschland hat heute rund 60 Millionen Wahlberechtigte bzw. Stimmberechtigte, Athen hatte dagegen nur 30.000 – 50.000 Stimmberechtigte. Eine Wahlversammlung, zu der alle stimmberechtigten Bürger eingeladen sind, wäre nicht möglich. Selbst wenn nur jeder 100. Wahlberechtigte anwesend wäre, wären das immerhin noch 600.000 Anwesende. Selbst wenn für die ein geeigneter, ausreichend großer Platz gefunden wäre, wären Abstimmungen mit Handerheben mindestens bei Abstimmungen mit nicht eindeutigem Ausgang schwerlich durchführbar. Auch Abstimmungen mit Stimmsteinen oder Ähnlichem würden einen enormen logistischen Aufwand erfordern. Ähnlich schwierig wäre die Durchführung der Reden und Diskussionen. Der Reiseaufwand wäre enorm, bei entsprechenden Belastungen für Geldbeutel und Umwelt. Kurz: Volksversammlungen nach athenischem Vorbild sind auf Bundesebene nicht realistisch. Eher kommen sie auf Kreisebene infrage, zumal Athen eher mit einem Kreis als mit der ganzen Bundesrepublik vergleichbar ist. Dem entspricht auch, dass in der Schweiz Volksversammlungen auf kantonaler Ebene stattfinden. Allerdings handelt es sich um einige wenige kleine Kantone und die Volksversammlungen, in der Schweiz „Landsgemeinden“ genannt, erscheinen eher als ein Relikt der Vergangenheit. Volksentscheide sind allerdings nicht an Volksversammlungen gebunden. Möglich sind auch Abstimmungen in Wahllokalen, per Briefwahl und/oder digitale Abstimmungen.

Zu bedenken ist, dass in Athen nur männliche Bürger stimmberechtigt waren. Es waren also nicht nur Minderjährige und Ausländer ausgeschlossen, sondern auch Frauen und Sklaven. So ungerecht dies aus heutiger Sicht erscheint, so hilfreich war das im Hinblick auf die Fortführung der Aufgaben in Haus und Beruf. Gerade die ständige Abwesenheit von qualifizierten männlichen und weiblichen Arbeitskräften würde eine erhebliche wirtschaftliche Belastung darstellen. Heute gibt es in Deutschland keine Sklaven mehr. Qualifizierte Arbeiten können auch nicht einfach Hilfskräften übertragen werden und nicht jede Arbeit lässt sich auf der Anreise oder Abreise digital erledigen. Kurz: Die gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen der Demokratie haben sich verändert. Insofern kann die heutige Demokratie der Bundesrepublik nicht einfach der antiken Demokratie Athens entsprechen.

Ausgeschlossen dürfte sein, das Gremium, das für die Vorbereitung und den reibungslosen Verlauf bundesweiter Volksentscheide zuständig ist, nach dem Muster des Rates der 500 zusammenzustellen. Ständige Rotation und Losverfahren dürften der notwendigen Professionalität, wie sie bei der Vorbereitung und Durchführung von bundesweiten Volksentscheiden erforderlich sind, entgegen stehen. Verfahrensfehler oder technische Defekte können eine ganze Abstimmung ungültig machen oder zu Streit führen. Auch dürfte die notwendige Professionalität nicht mit geringen Aufwandsentschädigungen für Verantwortliche zu erreichen sein. Schon die verschiedenen Informationskanäle (Fernseh- und Radiosendungen, Druckerzeugnisse und Internet) setzen professionelle Umsetzung seitens gut bezahlter Fachkräfte voraus. Mit einer großen Masse an Laien lassen sich höhere Ansprüche nicht erfüllen. Auch ist ausgeschlossen, dass die Staatsgeschäfte abwechselnd von allen möglichen Stimmberechtigten ausgeübt werden. Dafür sind das politische System und das politische Geschehen der Bundesrepublik viel zu komplex und die Ansprüche an die Regierenden zu hoch.

Auch von der Komplexität der Sachverhalte her ist Athen eher mit einem Kreis vergleichbar als mit einem Bundesland oder gar der ganzen Bundesrepublik. In ganz Deutschland gibt es eine unüberschaubare Zahl Institutionen, die von Abstimmungen betroffen sein können. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen sind heute viel stärker ausdifferenziert als in der antiken griechischen Welt. Es müssen viel mehr Dinge bedacht werden und die Vielzahl zu bedenkender Aspekte und Fakten birgt die Gefahr der Überforderung. Berufspolitiker sind zwar auch vor Überforderung nicht gefeit, aber sie sind in bestimmte Themenbereiche eingearbeitet und Abstimmungen werden in Ausschüssen vorbereitet. Hinzu kommen Informationsdienste wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, die notwendige Informationen bereitstellen. Natürlich können auch die stimmberechtigten Bundesbürger gut informiert werden, doch ist es ein sehr schweres Unterfangen, die komplexen Sachverhalte so darzustellen, dass Laien eine wohlüberlegte Entscheidung treffen können. Nicht wenige Menschen flüchten sich in einfache „Wahrheiten“, wenn sie die komplexe Welt überfordert. Eine Übertragung der athenischen Demokratie auf bundesweite Volksentscheide ist also schwerlich möglich.

Die Athener konnten über alles abstimmen. Dazu gehörten auch Kriegserklärungen und Friedensschlüsse. Solch umfassende Abstimmungsbefugnisse sind auf Bundesebene kaum denkbar. Die Folgen beispielsweise einer Kriegserklärung oder eines Austrittes aus einem Bündnis wären viel zu gravierend, als dass die Entscheidung der Masse des Volkes anvertraut werden könnte. Gerade solch weitreichenden Entscheidungen müssen auf besonderen Sachkenntnissen gründen. Es bedarf schon besonderer Einsichten in diplomatische Vorgänge, rechtliche Grundlagen oder Handelsbeziehungen. Athen hatte als Seemacht sicherlich erhebliches außenpolitisches und wirtschaftliches Gewicht. Und auch die Athener bekamen die möglicherweise verheerenden Folgen weitreichender Beschlüsse zu spüren. Aber sie konnten noch eher die Sachverhalte verstehen, als es die Bürger in der ausdifferenzierten, globalisierten Welt von heute können. Es ist nicht ausgeschlossen, den stimmberechtigten Bundesbürgern umfassende Entscheidungsbefugnis zu geben. Dies sollte aber nicht mit der Begründung geschehen, dass in der Wiege der Demokratie, in Athen, die Stimmberechtigten ebenfalls über alles entscheiden durften. Dafür sind Athen und die Bundesrepublik Deutschland doch zu wenig miteinander vergleichbar. Die athenische Demokratie kann uns heute Anregungen geben, jedoch nicht im Sinne eines Vorbildes einfach übernommen werden. Vorbild kann die athenische Demokratie in erster Linie im Hinblick auf ihre Lebendigkeit sein.

i Ausführlich zur athenischen Demokratie siehe Mogens Herman Hansen, Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes: Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis (Antike in der Moderne), Berlin 1995; Klaus Bringmann, Das Volk regiert sich selbst. Eine Geschichte der Demokratie, Darmstadt 2019, 11-77; Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, Göttingen, 2., durchges. Aufl. 1988. Ein guter Überblick samt kurzem Vergleich mit der modernen Demokratie findet sich in Jens Bartels, Hartmut Blum, Jörg Fündling, Die Antike: Grundzüge der griechischen und römischen Geschichte, Konstanz – München 2015, 93-103.