Für die Beurteilung der Streitfrage „Abtreibung legalisieren?“ sind die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes von 1975 und 1993 von großer Bedeutung. Um die ganze Tragweite der beiden Urteile zu verstehen, ist ein Blick auf ihren geschichtlichen Zusammenhang notwendig. Die beiden Urteile stehen in einer Tradition, nach der es sich bei der Abtreibung um ein Tötungsdelikt handele. Daher ist die Fristenlösung, die innerhalb einer bestimmten Frist die Abtreibung gänzlich ungesühnt lässt, unzulässig. Die Fristenlösung ist nur zulässig, wenn sie durch Bestimmungen zum Schutz der Ungeborenen ergänzt werden. Diese Maßgaben hat der Gesetzgeber 1995 in einer neuen Fassung des § 218 umgesetzt.
Die Vorgeschichte des § 218
Die christliche und traditionelle Auffassung von der Abtreibung war, dass es sich um ein Tötungsdelikt handele. So wurde die Abtreibung in fast allen Gesetzbüchern des 19. Jahrhunderts unter den Verbrechen wider das Leben, also den Tötungsverbrechen, aufgeführt. Nach Jahrzehnten des gesellschaftlichen Aufruhrs sowie des Drangs nach Einheit und einer Verfassung wurde 1870 in Anknüpfung an das preußische Strafgesetzbuch von 1851 ein einheitliches Strafgesetzbuch für die norddeutschen Staaten unter der Führung Preußens verwirklicht. Dieses wurde dann am 15. Mai 1871 praktisch unverändert als Reichsstrafgesetzbuch erlassen und trat am 1. Januar 1872 in Kraft.
Der § 218 im Reichsstrafgesetzbuch von 1871
Im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 waren die Bestimmungen zur Abtreibung in § 218 enthalten. Dieser Paragraph wurde unter dem Titel „Verbrechen und Vergehen wider das Leben“ aufgeführt. § 218 stellte jeden Abbruch einer Schwangerschaft grundsätzlich unter Strafe. Wörtlich lauteten die Bestimmungen: „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter 6 Monaten ein. Die selben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tötung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat“. Neu gegenüber dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 war lediglich die Bestimmung über die Zulässigkeit von Milderungsgründen. Anders als in den meisten früheren Strafgesetzbüchern der Kleinstaaten wurde nicht mehr nach „inneren oder äußeren“ Abtreibungsmitteln unterschieden.i
Die Diskussion über den § 218 in der Weimarer Republik
Im Ersten Weltkrieg brach in mancher Hinsicht die traditionelle Frauenrolle auf. Frisur und Kleidung änderten sich, es bildeten sich typische Frauenberufe heraus und 1918 erlangten die Frauen das Wahlrecht. Der Lebensstil der Frauen wurde freier und ungebundener. Der Ruf nach Selbstbestimmung über die eigene Sexualität und den eigenen Körper wurde lauter. Ebenso war die Kleinhaltung der Familie ein Trend. Empfängnisverhütung wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des rationalisierten Geschlechtslebens. Abtreibung war nicht nur ein letztes Mittel, um eine ungewollte Geburt zu vermeiden, sondern war auch – vor allem für Arbeiterfrauen – eine selbstverständliche Alternative zur Empfängnisverhütung.
Das Bild der neuen, „modernen“ Frau setzte sich jedoch nur teilweise durch. Die Verherrlichung der Frau als Mutter stieß durchaus auf breite gesellschaftliche Zustimmung. Zwischen 1922 und 1930 wurde der Muttertag durchgesetzt. Seine Propagierung war eine Antwort auf Geburtenrückgang, Abtreibung und auf als dekadent empfundene gesellschaftliche Entwicklungen. Auch progressive Frauen wandten sich nicht gegen die Mutterschaft. Aus ihrer Sicht sollte sie nur eben frei gewählt sein.
So alltäglich die Abtreibung für viele Frauen war, so skandalträchtig war sie als Thema der öffentlichen Diskussion und Politik. Die Diskussion über Abtreibung und den § 218 war jedoch weder vom Einsatz für das Lebensrecht des Ungeborenen noch vom Feminismus moderner Prägung bestimmt. Vielmehr ging es angesichts einer sinkenden Geburtenziffer um den Bestand und um die Stärke der Nation auf der einen Seite und um mehr weibliche Autonomie und um den Kampf gegen eine „Klassenjustiz“ auf der anderen Seite. Es zeichnete sich ein Konsens über die soziale Notwendigkeit einer Reform des § 218, etwa im Sinne eines geringeren Strafmaßes oder einer „sozialen Indikation“. Das Recht auf Abtreibung als Ausdruck weiblicher Selbstbestimmung wurde kaum propagiert.ii
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten fand die Diskussion um eine Milderung oder Abschaffung des § 218 endgültig eine Ende. Schwangerschaft und Geburt standen von nun an in erster Linie im Dienste der Stärkung des deutschen Volkes und der deutschen Nation. Der § 218 wurde reformiert, allerdings in Richtung einer deutlichen Verschärfung.iii
Kampf der Frauenbewegung für eine Strafrechtsreform
In der Nachkriegszeit wurde die Diskussion über den § 218 zunächst vornehmlich in der medizinischen und rechtswissenschaftlichen Fachwelt geführt. Es ging um die Rechtssicherheit für Mediziner, die in Grenzfällen wie der medizinischen oder der kriminologischen Indikation eine Abtreibung vornahmen. Die Öffentlichkeit und die Bundestagsparteien zollten dem Thema Abtreibung nur wenig Aufmerksamkeit. So kam es, dass bis zum Beginn der siebziger Jahre von keiner demokratischen Partei eine grundsätzliche Revision des § 218 gefordert wurde.iv Dass wieder
Mit dem Kampf der Aktivistinnen für mehr Frauenrechte rückte in den 1970er Jahren auch das Thema Abtreibung verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses. Ab 1927 nahm zwar die Justiz zumindest Abtreibungen aus medizinischen Gründen von der Strafe aus, jedoch reichte das den Aktivistinnen nicht. Sie setzten sich für die Selbstbestimmung von Frauen über ihre eigenen Körper ein. Das Motto lautete „Mein Bauch gehört mir“. Frauen sollten eigenverantwortlich darüber entscheiden können, ob sie ein Kind austragen oder nicht. Sie wollten sich nicht durch die männerorientierte Politik fremdbestimmen lassen. Die Aktivistinnen prangerten insbesondere auch die Ungerechtigkeit an, dass wohlhabende Frauen das gesetzliche Abtreibungsverbot umgehen konnten, indem sie den Schwangerschaftsabbruch beispielsweise in der Schweiz durchführen ließen. Frauen ohne die nötigen Geldmittel gefährdeten häufig bei illegalen und nicht fachgerechten Abtreibungen ihre Gesundheit, wenn nicht gar ihr Leben. Deshalb forderten Frauenrechtlerinnen bereits seit der Weimarer Republik die ersatzlose Streichung des § 218 oder wenigstens eine Straffreiheit bei einem Abbruch innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate.
Streit der Parteien um „Fristenlösung“ und „Indikationsmodell“
Die Regierungskoalition aus Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und Freie Demokratische Partei (FDP) reagierte im Juni 1974 mit einem Gesetz zur Reform des § 218. Künftig sollten Frauen in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft straffrei abtreiben dürfen, wenn sie sich vorher zu gesundheitlichen und sozialen Fragen hatten beraten lassen („Fristenregelung“). Die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) und Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU) nahmen jedoch gegen die Reform Stellung. Sie argumentierten, die Reform missachte den von der Verfassung gebotenen Schutz des menschlichen Lebens. Eine Einschränkung des Strafrechts sollte ihrer Meinung nach nur in sehr begrenztem Maße durch ein „Indikationsmodell“ erfolgen. Straffrei sollte eine Abtreibung nur sein, wenn nachweislich eine schwere gesundheitliche Gefährdung oder außergewöhnliche seelische Belastung der Schwangeren vorlag.
Das Bundesverfassungsgericht verwirft die Neuregelung des Abtreibungsrechts
Schließlich klagten 193 Abgeordnete aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie fünf konservative Landesregierungen beim Bundesverfassungsgericht gegen die Gesetzesreform. Das Bundesverfassungsgericht gab in seinem Urteil vom 25. Februar 1975 den Klägern Recht und machte deutlich, dass die Neuregelung der Verpflichtung des Staates zum Schutz menschlichen Lebens nicht gerecht werde. Die Entscheidung wurde mit 6 gegen 2 Stimmen gefällt. Die unterlegenen Richter gaben ein Minderheitsvotum ab. Das Bundesverfassungsgericht gründete sein Urteil auf zwei Bestimmungen des Grundgesetzes, nämlich Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“) und Art. 1 Abs. 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“).
Die erweiterte Indikationslösung als Reaktion auf das Urteil
SPD und FDP strebten daraufhin im Bundestag eine erweiterte Indikationslösung an und verabschiedeten diese im Februar 1976 gegen die Stimmen der Unionsfraktion. Nach diesem Gesetz wurde grundsätzlich bestraft, wer eine Schwangerschaft nach Abschluss der Nidation abbrach. Der Abbruch der Schwangerschaft war jedoch innerhalb bestimmter Fristen nicht strafbar, wenn er durch einen Arzt vorgenommen wurde, die Schwangere einwilligte und er nach ärztlicher Erkenntnis mit Rücksicht auf bestimmte schwerwiegende Notlagen der Schwangeren angezeigt war. Zu diesen schwerwiegenden, den Schwangerschaftsabbruch rechtfertigenden Notlagen – „Indikationen“ genannt – gehörten die Gefahr für die gegenwärtige oder zukünftige körperliche und/oder psychische Gesundheit der Schwangeren („medizinische Indikation“), die Diagnose einer schwerwiegenden Behinderung des werdenden Kindes („embryopathische Indikation“), Schwangerschaft aufgrund einer Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauchs („kriminologische Indikation“) und eine drohende Notlage für die Schwangere („soziale Indikation“). Während für die medizinische Indikation keine Frist vorgegeben war, durfte der Schwangerschaftsabbruch bei der embryopathischen Indikation nur in den ersten 22 Wochen nach der Empfängnis und bei der kriminologischen und sozialen Indikation nur in den ersten 12 Wochen nach der Empfängnis vorgenommen werden.
In der Realität blieb jedoch vielen Frauen die Möglichkeit zu straffreier Abtreibung vorenthalten, etwa weil Ärzte und Krankenhäuser in katholisch geprägten Gegenden eine derartige Indikation verweigerten.
Deutsche Wiedervereinigung: Die Fristenlösung mit Beratungspflicht als Kompromiss
In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hatte es seit 1972 eine Fristenregelung gegeben. Da die westdeutschen Regelungen restriktiver waren, musste mit der Wiedervereinigung Deutschlands eine einheitliche Regelung gefunden werden. Bis zum Juni 1992 lagen nicht weniger als sieben Entwürfe zur Abtreibungsrechtsnovelle vor. Diese reichten von einer drastischen Verschärfung des § 218 bis zur ersatzlosen Streichung dieses Strafrechtsparagraphen. Schließlich fand ein überparteilicher, von Parlamentariern aus SPD, FDP und CDU erarbeiteter Gruppenantrag die Mehrheit. Bei ihm handelte es sich um eine Kompromisslösung, die einer Fristenlösung mit Beratungspflicht entsprach.
Das Bundesverfassungsgericht lehnt den Kompromiss als verfassungswidrig ab
Erneut wurde Verfassungsklage erhoben, und zwar dieses Mal von der Bayerischen Staatsregierung und den in der Abstimmung unterlegenen CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten. Und wieder setzte das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 28. Mai 1993 die Rechtsnovelle mit einer einstweiligen Verfügung aus und forderte vom Gesetzgeber Korrekturen. Die Grundaussage des Bundesverfassungsgerichts lässt sich mit der Formel „rechtswidrig, aber straffrei“ wiedergeben. Für zulässig wurde der vom Gesetzgeber vollzogene Übergang zum Beratungskonzept gehalten. Die Straffreiheit war demnach an die Voraussetzung geknüpft, dass sich die Frau vor einem Schwangerschaftsabbruch hat beraten lassen. Das Urteil wurde von Kritikern als widersprüchlich empfunden und führte in der Bevölkerung zu Verwirrung. So stellte sich die Frage, wie es denn sein kann, dass eine Handlung, die gegen das Gesetz verstößt, nicht bestraft wird. Der Senatsmehrheit des Bundesverfassungsgerichtes kam es jedoch darauf an, dass das Unrechtsbewusstsein aufrechterhalten blieb.
Die Abtreibungsrechtsnovelle des Deutschen Bundestages
Die Bundestagsparteien standen nun vor der schwierigen Aufgabe, die Maßgaben des Bundesverfassungsgerichtes umzusetzen. Am 29. Juni 1995 stimmte der Bundestag nach langen Auseinandersetzungen schließlich einem fraktionsübergreifenden Vorschlag von CDU/CSU, FDP und SPD zu. Drei weitere Entwürfe von Bündnis 90/Die Grünen, PDS und einer Gruppe um den CDU-Abgeordneten Hoppe wurden abgelehnt. Der Bundesrat stimmte der Novelle des Abtreibungsrechts am 14. Juli 1995 zu. Das von nun an geltende Abtreibungsrecht kombinierte das Fristenmodell der DDR und das Indikationsmodell der Bundesrepublik Deutschland.v
i Ausführlich zur Vorgeschichte des § 218 im 19. Jahrhundert siehe Eduard Seidler, Das 19. Jahrhundert. Zur Vorgeschichte des Paragraphen 218, in: R. Jütte [Hrsg], Geschichte der Abtreibung: von der Antike bis zur Gegenwart, München 1993, 120-139; grundlegend auch Dirk von Behren, Die Geschichte des § 218 StGB (Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte), Tübingen 2004, 34-39; zum Deutschen Abtreibungsrecht von 1871 bis 1945 siehe Manfred Kindl, Philosophische Bewertungsmöglichkeiten der Abtreibung (Philosophische Schriften 18), Berlin 1996, 64-67.
ii Ausführlich zur Diskussion über den § 218 in der Weimarer Republik siehe Christiane Dienel, Das 20. Jahrhundert (I). Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau, in: R. Jütte [Hrsg.], Geschichte der Abtreibung: von der Antike bis zur Gegenwart, München 1993, 140-168.
iii Vgl. Manfred Kindl, Philosophische Bewertungsmöglichkeiten der Abtreibung (Philosophische Schriften 18), Berlin 1996, 64-67 Ausführlich zur Abtreibungsgesetzgebung in der Zeit des Nationalsozialismus siehe Dirk von Behren, Die Geschichte des § 218 StGB (Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte), Tübingen 2004, 326-365.
iv Vgl. Michael Gante, Das 20. Jahrhundert (II). Rechtspolitik und Rechtswirklichkeit 1927-1976, in: R. Jütte [Hrsg.], Geschichte der Abtreibung: von der Antike bis zur Gegenwart, München 1993, 172-174.
v Zur Entwicklung der parlamentarischen Diskussion und Gesetzgebung seit den siebziger Jahren siehe Manfred Kindl, Philosophische Bewertungsmöglichkeiten der Abtreibung (Philosophische Schriften 18), Berlin 1996, 67-72.107-145 und in Form eines knappen Überblicks https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/201776/1975-streit-um-straffreie-abtreibung (aufgerufen am 21.01.2022). Ausführlich zu den siebziger Jahren siehe Dirk von Behren, Die Geschichte des § 218 StGB (Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte), Tübingen 2004, 451-496. Zur rechtlichen Lage nach der Wiedervereinigung siehe Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland, Sachstand WD 7 – 3000 – 064/17, 4-7. Eine kritische Bewertung der beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichts bietet Sabine Berghahn, Weichenstellungen in Karlsruhe – Die deutsche Reform des Abtreibungsrechts, in: U. Busch, D. Hahn [Hrsg.], Abtreibung: Diskurse und Tendenzen, Bielefeld 2015, 163-192.