Das Grundgesetz sieht zwar Abstimmungen vor, allerdings nicht ausdrücklich bundesweite Volksentscheide. Um diese zu ermöglichen, bedarf es nach verbreiteter Meinung einer Grundgesetzänderung. Das lässt die Frage aufkommen, welche Gründe die Mitglieder des Parlamentarischen Rates dazu bewegt haben, zwar direktdemokratische Elemente in den Landesverfassungen zu befürworten, auf Bundesebene jedoch keine Volksentscheide vorzusehen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass weder die Erfahrungen der Weimarer Republik noch der Missbrauch der direkten Demokratie durch die Nationalsozialisten entscheidend waren. Entscheidend war vielmehr die Sorge, die SED und auch die KPD könnten die direkte Demokratie auf Bundesebene instrumentalisieren. Hinzu trat die Befürchtung, das Volk könne sich bei Reizthemen leicht instrumentalisieren lassen.

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus

In Art. 20 Abs. 2 GG heißt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Das Grundgesetz geht also davon aus, dass Deutschland eine repräsentative Demokratie ist. Das bedeutet, dass die Staatsgewalt durch gewählte Volksvertreter ausgeübt wird. Außerdem gibt es zur Ausübung der Staatsgewalt die benötigten Organe. Die repräsentative Demokratie wird durch Elemente der direkten Demokratie ergänzt. Ausdrücklich genannt werden „Abstimmungen“. Dabei lässt das Grundgesetz offen, was genau unter „Abstimmungen“ zu verstehen ist.

Ausdrücklich von einem „Volksentscheid“ ist nur in Art. 29 GG die Rede, wo es um die Neuordnung des Bundesgebietes geht. In Satz 3 heißt es dazu: „Der Volksentscheid findet in den Ländern statt, aus deren Gebieten oder Gebietsteilen ein neues oder neu umgrenztes Land gebildet werden soll (betroffene Länder). Abzustimmen ist über die Frage, ob die betroffenen Länder wie bisher bestehen bleiben sollen oder ob das neue oder neu umgrenzte Land gebildet werden soll.“ Zu einem bundesweiten Volksentscheid würde es demnach nur kommen, wenn das gesamte Bundesgebiet von der Neuordnung betroffen wäre.

Die Entstehung des Grundgesetzes

Die westlichen Besatzungsmächte hatten sich im Frühjahr 1948 für die Bildung eines deutschen Staates auf dem Territorium ihrer drei Besatzungszonen entschieden. Am 1. Juli 1948 übergaben die drei westlichen Militärgouverneure den Ministerpräsidenten der Länder drei Dokumente. Diese empfahlen u. a., bis zum 1. September eine Verfassunggebende Versammlung aus Mitgliedern der verschiedenen Landtage einzuberufen mit dem Ziel, für das Gebiet der drei Westzonen eine Verfassung auszuarbeiten. Diese sollte dann nach Zustimmung durch die Besatzungsmächte in einer Volksabstimmung gebilligt werden.

Die Ministerpräsidenten dagegen wollten die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung und die Ausarbeitung einer deutschen Verfassung zurückstellen, „bis die Voraussetzungen für eine gesamtdeutsche Regelung gegeben sind und die deutsche Souveränität in ausreichendem Maße wiederhergestellt ist“. Auf dieses Ansinnen gingen die Militärgouverneure nicht ein. Die Ministerpräsidenten vermieden die Begriffe „Nationalversammlung“ und „Verfassung“. Der westliche Teilstaat sollte sich nur auf ein „Grundgesetz“ gründen, das dem staatlichen Leben für die Übergangszeit bis zur gesamtdeutschen Regelung eine neue Ordnung geben sollte. Dieses „Grundgesetz“ sollte von einem „Parlamentarischen Rat“ erarbeitet werden.

Die 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates – 61 Männer und 4 Frauen – wurden von den einzelnen Landesparlamenten gewählt. Der Empfehlung der Militärgouverneure entsprechend konstituierte sich der Parlamentarische Rat am 1. September 1948. Der Parlamentarische Rat konnte bei seiner Arbeit auf einen Entwurf zurückgreifen, den ein Sachverständigen-Ausschuss im August erarbeitet hatte.i

Das Ausbleiben der Volksabstimmung über das Grundgesetz

Am 8. Mai 1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit 53 gegen 12 Stimmen. Nach der Billigung durch die Militärgouverneure am 12. Mai und der Ratifizierung durch die Länderparlamente – nur der bayerische Landtag lehnte ab, weil er mehrheitlich das Grundgesetz für zu zentralistisch hielt – wurde es dann in einem feierlichen Staatsakt verkündet.

In der Präambel des Grundgesetzes heißt es, dass sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben habe. Allerdings hat es sich dieses nicht mittels einer bundesweiten Volksabstimmung gegeben. Die Militärgouverneure hatten eine Volksabstimmung zwar empfohlen, diese dann aber nicht energisch durchgesetzt. Und der Parlamentarische Rat sah keine Notwendigkeit, weil sich Deutschland ja noch unter Besatzungsherrschaft befand und außerdem in einen westlichen Teil und einen östlichen Teil geteilt war. Eine Volksabstimmung hätte alleine die westdeutsche Bevölkerung umfassen und auch nur vorläufig sein können.

Im Rahmen der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 stellte sich die Frage, ob das bisher nur in den westdeutschen Ländern, der bisherigen Bundesrepublik Deutschland (BRD, Bundesrepublik), gültige Grundgesetz auch von den ostdeutschen Ländern, der bisherigen Deutschen Demokratischen Republik (DDR), übernommen werden sollte. Diesen Schritt sah der bis 1990 gültige Art. 23 GG vor, der bestimmte: „In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Die Alternative zu dieser Beitrittslösung war die Verfassungslösung. Diese hätte sich auf Art. 146 GG stützen können: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Es hätte von einer Nationalversammlung eine Verfassung erarbeitet werden können. Die hätte dann vom deutschen Volk beschlossen werden müssen. Art. 146 GG sagt nicht, wie der Beschluss hätte erfolgen müssen. Am ehesten ist an eine bundesweite Volksabstimmung zu denken. Das Grundgesetz hätte vom deutschen Volk auch unverändert als Verfassung angenommen werden können. Auch in diesem Fall wäre eine bundesweite Volksabstimmung zu erwarten gewesen. Weil sich das Grundgesetz nach verbreiteter Auffassung bewährt hatte, entschied man sich schließlich aber für die Beitrittslösung.

Am 31. August 1990 schlossen Vertreter der DDR und der Bundesrepublik den Einigungsvertrag. Er regelte den Beitritt der DDR am 3. Oktober 1990. Das Grundgesetz sollte fortan für das gesamte deutsche Volk gelten. Sowohl im damaligen ostdeutschen Parlament, der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, als auch im Bundestag fand der Vertrag am 20. September 1990 eine breite Mehrheit. Danach erfolgte die Zustimmung des Bundesrates. Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker unterzeichnete das Gesetz. Eine bundesweite Volksabstimmung über das Grundgesetz erfolgte nicht.

Direkte Demokratie in der Weimarer Republik

Auf der Suche nach den Gründen für die fehlende Verankerung des bundesweiten Volksentscheids im Grundgesetz wird oft auf die schlechten Erfahrungen mit der direkten Demokratie in der Weimarer Republik verwiesen. In der Weimarer Republik waren in Deutschland erstmals Elemente der direkten Demokratie eingeführt worden.

Die Verfassung räumte in Artikel 73 der Bevölkerung das Recht der Volksgesetzgebung ein. Mit den Unterschriften von mindestens 10 % der Wahlberechtigten konnte dem Reichstag ein Volksbegehren vorgelegt werden. Diesem musste ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zugrunde liegen. Er war von der Regierung unter Darlegung ihrer Stellungnahme dem Reichstag zu unterbreiten. Stimmte der Reichstag dem Gesetzentwurf nicht zu, kam es zum Volksentscheid, dessen Erfolg davon abhing, dass 50 % des Wahlvolkes daran teilnahmen und überdies die Mehrheit der Teilnehmer mit „Ja“ stimmte. Auch der Reichstag und – über den Haushaltsplan, über Abgabengesetze und Besoldungsordnungen ausschließlich – der Reichspräsident konnten einen Volksentscheid veranlassen. Dazu kam es aber in keinem Fall. Vergleichbare Regelungen fanden auch in den meisten Ländern Eingang in die jeweilige Landesverfassung.

Auf Reichsebene fanden lediglich drei Volksbegehren statt. Nur zwei davon schafften es bis zum Volksentscheid, beide konnten das Beteiligungsquorum von mindestens 50 % jedoch nicht überwinden. 1926 scheiterte die von Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) unterstützte Fürstenenteignung am Beteiligungsquorum, obwohl die Debatte zu einer der umfassendsten politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik eskalierte. Das Volksbegehren „Gegen den Panzerkreuzerbau“, unterstützt von der KPD, scheiterte 1928 bereits am Unterschriftenquorum. Der Volksentscheid gegen den Young-Plan, der von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) unterstützt worden war, scheiterte 1929 mit nur 14,9 % Stimmbeteiligung ebenfalls deutlich. Angesichts der hohen Beteiligungsquoren bestand die Taktik der jeweiligen Gegner der Volksentscheide nicht darin, um eine Stimmenmehrheit zu kämpfen, sondern in einem Boykott der Abstimmung. Die Erfahrungen mit der direkten Demokratie waren in der Weimarer Republik nicht schlecht. Die Volksgesetzgebung war letzten Endes nur erfolglos. Das lag am mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung, an – hieraus erwachsend – zu schwachen verfassungstreuen Parteien, am Aufstieg verfassungsfeindlicher Parteien sowie an der faktischen Funktionsunfähigkeit ihres semi-präsidentiellen Regierungssystems.

Der erste Volksabstimmung in der deutschen Geschichte erfolgte auf Länderebene. Nachdem am 21. März 1919 die badische Nationalversammlung einstimmig die neue badische Verfassung beschlossen hatte, wurde diese am 13. April in einer Volksabstimmung angenommen. Weitere Volksabstimmungen über Verfassungen wurden in der Weimarer Republik nicht durchgeführt.ii

Direkte Demokratie im Nationalsozialismus

Während der Diktatur der Nationalsozialisten trat das Gesetz über Volksabstimmung vom 14. Juli 1933 an die Stelle der Artikel 73–76 der Weimarer Reichsverfassung, die jedoch formal nicht aufgehoben wurden. Es ermöglichte der Reichsregierung, ein Referendum zu initiieren, dessen Gegenstand nicht nur Gesetze, sondern allgemein „beabsichtigte Maßnahmen“ sein konnten. Das Quorum und damit die Vetomöglichkeit durch Abstimmungsboykott wurden abgeschafft. Da lediglich ein zustimmendes Votum verbindlich war, handelte es sich bei den Volksabstimmungen lediglich um Volksbefragungen.iii

Argumente des Parlamentarischen Rates gegen Volksentscheide

Nach dem Scheitern der Weimarer Republik und den Schrecken des Nationalsozialismus sollte mit dem Grundgesetz das Fundament für einen demokratischen Rechtsstaat gelegt werden. Angesichts der Tatsache, dass die Volksgesetzgebung praktisch in alle neuen Länderverfassungen des Westens Eingang fanden, verwundert die fehlende Erwähnung von bundesweiten Volksentscheiden im Grundgesetz. Das umso mehr, als die Mitglieder des Parlamentarischen Rates von den einzelnen Landesparlamenten gewählt wurden. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten sich zuvor in der Landespolitik der Nachkriegszeit bewährt, hätten also der Volksgesetzgebung gegenüber positiv eingestellt sein müssen.

Auf den ersten Blick lassen die Debatten des Parlamentarischen Rates annehmen, die Aufnahme der Volksgesetzgebung in das Grundgesetz sei aufgrund der schlechten Erfahrungen in der Weimarer Republik abgelehnt worden.iv Bei genauerem Hinsehen wurde auf diese aber nur vereinzelt angespielt. Sie waren ja auch nicht wirklich stichhaltig, weil die Erfahrungen nicht ganz so schlecht gewesen waren. Auch der Missbrauch der direkten Demokratie für die Ziele der Nationalsozialisten war nicht entscheidend. Entscheidend dürfte vielmehr der sich rasend schnell entfaltende Ost-West-Konflikt gewesen sein. Praktisch alle Landesverfassungen der Sowjetischen Besatzungszone enthielten die Volksgesetzgebung in unterschiedlicher Form, ebenso der Verfassungsentwurf der SED für einen deutschen Gesamtstaat. Die SED bediente sich der Volksbegehren und Volksentscheide zur Durchsetzung der eigenen sozialrevolutionären Ziele. 1948 initiierte sie ein deutschlandweites Volksbegehren für einen deutschen Gesamtstaat und gegen eine etwaige Teilung. Dieses Volksbegehren trug dazu bei, dass im Westen die Teilstaatsgründung vorangetrieben wurde. Auch nahmen die Ministerpräsidenten von einer Volksabstimmung über die zu erarbeitende Verfassung Abstand, um nicht Wasser auf die Mühlen der SED zu gießen. Es wurde der Gedanke bestärkt, dass keine Verfassung im eigentlichen Sinn, sondern ein Grundgesetz zu erarbeiten sei. Dieses wurde als Provisorium verstanden, das für die Inkraftsetzung keiner Volksabstimmung bedürfe.

Zur Sorge vor der Instrumentalisierung der Volksabstimmungen durch die SED und KPD trat die Befürchtung, das Volk könne sich als unreif erweisen und bei bestimmten Reizthemen leicht instrumentalisieren lassen. So kam es, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die eigentlich direktdemokratischen Elementen in der Verfassung gegenüber aufgeschlossen waren, eine bemerkenswerte Zurückhaltung bei deren Aufnahme ins Grundgesetz zeigten. Der Art. 20 GG sicherte zwar die direktdemokratischen Elemente auf Landesebene ab, sah aber keine bundesweiten Volksentscheide vor. Dennoch blieben diese für später, wenn die Zeit für die Wiedervereinigung Deutschlands reif sein würde, eine Option.v

i Vgl. Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Fragen an die deutsche Geschichte: Ideen, Kräfte, Entscheidungen von 1800 bis zur Gegenwart; histor. Ausstellung im Reichstagsgebäude in Berlin; Katalog, Bonn, 13. Aufl. 1988, 349-354.

ii Ausführlich zur direkten Demokratie in der Weimarer Republik siehe Christopher Schwieger, Volksgesetzgebung in Deutschland: Der wissenschaftliche Umgang mit plebiszitärer Gesetzgebung auf Reichs- und Bundesebene in Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik Deutschland (1919-2002) (TSSV 71), Diss., Bonn 2005, 25-201; Hanns-Jürgen Wiegand, Hanns-Jürgen Wiegand, Direktdemokratische Elemente in der Verfassungsgeschichte (Juristische Zeitgeschichte, Abt. 1: 20), Berlin 2006, 32-141.

iii Ausführlich zu Volksabstimmungen im Nationalsozialismus siehe Christopher Schwieger, Volksgesetzgebung in Deutschland: Der wissenschaftliche Umgang mit plebiszitärer Gesetzgebung auf Reichs- und Bundesebene in Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik Deutschland (1919-2002) (TSSV 71), Diss., Bonn 2005, 202-269; Hanns-Jürgen Wiegand, Direktdemokratische Elemente in der Verfassungsgeschichte (Juristische Zeitgeschichte, Abt. 1: 20), Berlin 2006, 142-165.

iv Zu den „falschen Lehren aus ‚Weimar‘“, wie sie immer wieder vorgebracht würden, siehe Werner J. Patzelt, Weshalb wird der Wert plebiszitärer Instrumente verkannt, und wie beugt man dem vor?, in: H. K. Heußner, A. Pautsch, F. Wittreck [Hrsg.], Direkte Demokratie, FS O. Jung, Stuttgart 2021, 105-107.

v Ausführlich zum Grundgesetz und Volksentscheid siehe Otmar Jung, Grundgesetz und Volksentscheid, Opladen 1994; Ausführlich zur Einführung der Volksgesetzgebung auf Reichsebene durch die Weimarer Verfassung siehe Christopher Schwieger, Volksgesetzgebung in Deutschland: Der wissenschaftliche Umgang mit plebiszitärer Gesetzgebung auf Reichs- und Bundesebene in Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik Deutschland (1919-2002) (TSSV 71), Diss., Bonn 2005, 270-378; Hanns-Jürgen Wiegand, Direktdemokratische Elemente in der Verfassungsgeschichte (Juristische Zeitgeschichte, Abt. 1: 20), Berlin 2006, 166-494. Eine gute Zusammenfassung der entscheidenden Punkte findet sich in Philipp Deeg, Warum die direkte Demokratie im Grundgesetz fehlt, demokratie! 130/1 (2022), 39-41.