Sind Tierversuche ethisch vertretbar? Die Antwort auf diese Frage hängt entscheidend von der Einstellung zum Tier ab: Ist das Tier dem Menschen untergeordnet? Oder sind ihm eigene Rechte zu gewähren? Falls dies der Fall ist: Wie weit sollen diese Rechte gehen? Die den Tierversuchen zugrunde liegende Sicht ist, dass Tiere zwar zu schützen, jedoch den Menschen untergeordnet sind. Wenn es um die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit und um den Gesundheitsschutz geht, dürfen Tiere für Versuche herangezogen werden. Diese dem Forschergeist entspringenden und den Menschen in den Mittelpunkt stellende Sicht ist jedoch nicht unumstritten.
Tierversuch statt Menschenversuch – ethisch vertretbar?
Tierversuche erfolgen gewöhnlich, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen und um Menschen vor schädlichen Substanzen von Stoffen zu schützen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Schutz vor schädlichen Substanzen betreffen meist den Menschen und kommen nur an zweiter Stelle – insbesondere in der Tiermedizin – den Tieren zugute. Da wäre es eigentlich nahe liegend, die Versuche direkt an Menschen durchzuführen. Dagegen wird jedoch gewöhnlich das Argument vorgebracht, dass es ethisch nicht vertretbar sei, Menschenleben für die Versuche zu gefährden. Tiere seien mit den Menschen nicht gleichzusetzen und diesen unterzuordnen. Bevor also beispielsweise die Wirkstoffe eines Medikamentes an Menschen getestet werden, werden sie erst einmal langwierigen anderen Testverfahren unterzogen, an deren Ende oftmals Tierversuche stehen. Aber worin liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tier, der Tierversuche eher ethisch vertretbar als Menschenversuche erscheinen lässt? Und: Ist eine solche Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, die Tiere zugunsten der Wissenschaft und Gesundheit des Menschen opfert überhaupt sachgemäß? Auf diese Fragen werden sehr unterschiedliche Antworten gegeben.
René Descartes: Tiere als „Maschinen“
René Descartes (1596-1650) macht im fünften Abschnitt des 1637 erschienenen „Berichtes von der Methode“ zwei wesentliche Unterschiede zwischen dem Tier und dem Menschen aus: die Sprache und die Vernunft. So schreibt er: „Denn es ist sehr bemerkenswert, dass es überhaupt keine so stumpfsinnigen und dummen Menschen gibt, sogar die Wahnsinnigen nicht ausgenommen, die nicht fähig wären, verschiedene Worte zusammenzustellen und aus ihnen einen Text zusammenzustellen, durch den sie ihre Gedanken einsichtig machen, während es überhaupt kein anderes Tier gibt, das ähnliches zuwege brächte, so vollkommen und vorteilhaft veranlagt auch immer es sein mag.“i
Die Theorie von Descartes ist als eine Auseinandersetzung mit den Gedanken der beiden Philosophen Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) und Michel de Montaigne (1533 – 1592) zu verstehen. Aristoteles ging davon aus, dass der Körper potenziell Leben habe und durch die Seele belebt werden könne. Im Gegensatz zu den Nichtlebewesen hätten Lebewesen eine solche Seele. Dabei unterscheidet Aristoteles unterschiedliche Seelenvermögen: Pflanzen besäßen das vegetative Seelenvermögen (lateinisch: anima vegetativa), das für die Fortpflanzung, das Wachstum und den Stoffwechsel verantwortlich sei. Alle Tiere verfügten darüber hinaus auch eine sensitive Seele (lateinisch: anima sensitiva), also die Fähigkeit zu Sinneswahrnehmung und – bei höher entwickelten Tieren – zu selbstständiger Fortbewegung. Nur der Mensch verfüge schließlich auch noch über ein drittes Seelenvermögen, nämlich das intellektuelle (lateinisch: anima intellectiva). Dabei handele es sich um die Vernunft, also um das Denken und Wollen. Aristoteles trennt nicht streng zwischen Seele und Körper, sondern er sieht beide in einem Zusammenhang: Die Seele sei „Form“ und der Körper sei „Stoff“ oder „Materie“, der bzw. die geformt wird.
Descartes schränkt die Seele auf die Vernunft ein und kommt somit zu dem Ergebnis, dass Tiere im Gegensatz zu den Menschen keine Seele hätten. Die Tiere hätten zwar Leben, wobei dieses jedoch durch das Herz bewirkt werde, womit eine vegetative Seele überflüssig sei. Ebenso wie der Mensch, mit dem sie in dieser äußerlichen Hinsicht identisch sei, besäßen die Tiere eine ausgedehnte Substanz (lateinisch: res extensa), nämlich den Körper. Ihre Sinneswahrnehmung sei jedoch nicht auf eine sensitive Seele zurückzuführen, sondern ausschließlich auf körperliche Vorgänge. Auch für die Bewegung bedürfe es keine sensitive Seele, denn der Körper werde nicht bewegt, sondern er bewege sich selbst. Insofern sei er eine Maschine (oder: ein Automat). Weil das Tier im Gegensatz zum Menschen über den Körper hinaus keine intellektuelle Seele – von Descartes als „geistige Substanz“ (lateinisch: res cogitans) bezeichnet – habe, sei es letztendlich nichts weiter als eine Maschine. Hinsichtlich des inneren Vermögens seien Mensch und Tier also gänzlich verschieden.
Im Gegensatz zu Michel de Montaigne, der den Hochmut der Menschen gegenüber den Tieren als angeblich weniger befähigten Wesen kritisierte, vermag Descartes keine Ähnlichkeit von Mensch und Tier hinsichtlich Sprach-, Denk- und Moralfähigkeit zu sehen. Die von Montaigne vorgebrachten Argumente vermögen ihn nicht zu überzeugen. Die scheinbar so klugen Verhaltensweisen seien rein mechanistisch zu erklären. Natürlich könnten auch Elstern und Papageien Worte äußern wie die Menschen, aber sie könnten niemals Worte oder – wie taub oder stumm geborene Menschen – andere Zeichen gebrauchen, indem sie sie zusammensetzen, wie die Menschen es tun, um anderen ihre Gedanken kundzutun. Und natürlich gebe es etliche Tiere, die bei einigen ihrer Tätigkeiten mehr Einfallsreichtum als die Menschen bezeugen; gleichwohl sehe man, dass dieselben Tiere bei vielen anderen Tätigkeiten überhaupt keinen Einfallsreichtum bezeugen. Die Tiere hätten keinen Geist, sondern es sei die Natur, die in ihnen entsprechend ihrer Anordnung ihrer Organe tätig sei. So sehe man ja auch, dass eine Uhr, die nur aus Rädern und Triebfedern zusammengesetzt ist, die Stunden zählen und die Zeit genauer messen kann als der Mensch mit all seiner Klugheit.ii
Das Tier als gefühlloses Wesen? – Descartes missverstanden
Die cartesianische Ansicht, wonach es sich bei den Tieren um seelenlose Wesen, um „Maschinen“, leistete dem Missverständnis Vorschub, dass die Tiere auch gefühllos seien. Zwar würden sie schreien, aber ihr Schrei sei rein mechanistisch zu verstehen, so wie eine Orgel einen Ton gibt, wenn man eine Taste schlägt. Ein solches Verständnis führte dazu, dass Tiere als Objekte angesehen wurden, die man bedenkenlos für Versuche und wirtschaftliche Absichten verwenden und denen man bedenkenlos Schmerzen zufügen könne. Betäubung schien bei solch gefühllosen Wesen überflüssig zu sein. Diese Haltung führte dazu, dass Voltaire in seinem Philosophischen Wörterbuch vehement protestierte: „Barbaren ergreifen den Hund, der den Menschen an Treue so außerordentlich übertrifft; sie nageln ihn auf einen Tisch und sezieren ihn lebendig, um die Darmvenen zu zeigen. Man entdeckt die gleichen Gefühlsorgane, die wir selbst haben. Antworte mir, Maschinist, hat die Natur all die Gefühlsorgane in diesem Tier so angeordnet, dass es nichts fühlt?“
Vermutlich ist auch Descartes davon ausgegangen, dass Tiere Schmerz empfinden können. Demnach wären Tiere empfindungsfähige Maschinen; allerdings hätten sie den Schmerz nicht bewusst empfunden.
Jeremy Bentham und Humphry Primatt: Die Empfindungs- und Leidensfähigkeit von Tieren ist Verhaltensmaßstab
Der englische Philosoph Jeremy Bentham (1748 – 1832) gilt als Begründer des Utilitarismus. Diese Lehre erklärt, dass es die Pflicht des Einzelnen und der Regierung sei, in der Gesellschaft das Glück – hier als Freude begriffen – zu befördern und den Schmerz einzudämmen. Dabei beziehe sich das Glück nie auf ein Einzelwesen, sondern immer auf ein Kollektiv. Somit dürfe es im ethischen und rechtlichen Handeln nie nur um das eigene Glück, sondern es müsse immer auch um das Glück des oder der anderen gehen. Empfänglich für Glück seien zum einen andere Menschen, zum anderen aber auch die Tiere, die, weil ihre Interessen aufgrund der Gefühllosigkeit der Juristen des Altertums vernachlässigt worden seien, in die Klasse der Dinge degradiert worden seien. In einer Fußnote seiner Schrift „Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung“ von 1789 kommt er in einer Fußnote auf die Geschichte des Tierleids und auf die Rechtlosigkeit zu sprechen und fordert sowohl für die Sklaven als auch für die Tiere Rechte ein. Der andersartige Körperbau der Tiere könne ja wohl kein Kriterium dafür sein, den Tieren die Rechte von (freien) Menschen vorzuenthalten und sie zu quälen. Überhaupt lasse sich keine unüberwindbare Trennlinie zwischen Mensch und Tier ziehen, etwa unter Bezug auf die Fähigkeit der Vernunft oder die Fähigkeit der Rede. So schreibt er: „Doch ein ausgewachsenes Pferd oder ein ausgewachsener Hund ist über jeden Vergleich hinaus ein verständigeres wie auch ein mitteilsameres Tier als ein Säugling, der erst einen Tag, eine Woche oder meinethalben sogar einen Monat alt ist. Doch nehmen wir an, dem wäre nicht so, was würde das ändern? Die Frage ist nicht: Können sie denken?, noch: Können sie sprechen? sondern : Können sie leiden?“ Die Leidensfähigkeit des Tieres sei also beim Umgang mit dem Tier zu berücksichtigen.iii
Aus den Aussagen von Bentham ist eine deutliche Abgrenzung von Descartes herauszulesen. Ganz neu ist seine Argumentation allerdings nicht, denn schon einige Jahre zuvor hat der anglikanische Geistliche im Ruhestand, Humphry Primatt, in seiner Abhandlung „Die Pflicht der Barmherzigkeit und die Sünde der Grausamkeit gegenüber Tieren“ ähnliche Gedanken geäußert. Primatt schrieb im Jahre der Unabhängigkeitserklärung der dreizehn britischen Kolonien, 1776, und zwar im Lichte der dort noch herrschenden Versklavung von Menschen schwarzer Hautfarbe. Dementsprechend trat er in seiner Abhandlung zunächst für die Gleichheit von Menschen verschiedener Hautfarbe ein und wendete dann die Argumente für Gleichheit und Gerechtigkeit unter Menschen auch auf die Beziehung des Menschen zu den Tieren an. Er schrieb: „Wenn also menschliche Unterschiede in Intelligenz, Hautfarbe, Gestalt und Schicksal keinem Menschen das Recht geben, einen anderen Menschen aufgrund dieser Unterschiede zu missbrauchen oder zu beleidigen, hat auch kein Mensch ein naturgegebenes Recht, ein Tier zu missbrauchen oder zu quälen, nur weil es weniger intelligent ist als ein Mensch.“ Einer der Hauptgründe, warum Menschen Tiere respektvoll zu behandeln haben, liegt für Primatt in ihrer Empfindungsfähigkeit.iv
Immanuel Kant: Schonende Behandlung von Tieren als moralische Pflicht
Immanuel Kant (1724-1804) ist ein Gegner des Utilitarismus. Ihm geht es nicht um Glückseligkeit, sondern er ist Vertreter einer auf Pflicht beruhenden Ethik. Auch die „Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Tiere“ sieht er unter dem Gesichtspunkt der Pflicht.
Die Einstellung von Kant gegenüber Tieren liegt auf der gleichen Linie wie die des mittelalterlichen Kirchenlehrers Thomas von Aquin. Thomas von Aquin vertrat die Ansicht, dass nur der Mensch eine Seele besitze, die Tiere nicht. Moralische Verpflichtungen im eigentlichen Sinne könne der Mensch aber nur gegenüber seinesgleichen und Gott haben. Diese auf den Menschen fixierten Sichtweise liegt auch seiner Einstellung gegenüber den Tieren zugrunde: Tiere empfänden wie die Menschen Schmerzen. Es liege nahe, dass derjenige, der mit den Schmerzen der Tiere Mitgefühl zeigt, daraus empfänglicher wird für Gefühle des Erbarmens den Menschen gegenüber.
Bei Kant wird die Auffassung von Thomas von Aquin säkularisiert, indem an die Stelle der unsterblichen Seele der Besitz der Vernunft tritt: Pflichten könnten nur Vernunftwesen haben, und diese könnten auch nur gegenüber Vernunftwesen bestehen. So seien wir zwar verpflichtet, Tiere schonend zu behandeln, aber nicht um des Tieres, sondern um des Menschen willen. Wenn wir Tiere grausam behandeln, so sei das nur deshalb moralisch unzulässig, weil eine Gewöhnung an brutalen Umgang mit Tieren die Bereitschaft zur Moralität im Umgang mit anderen Menschen schwächen würde.v
Albert Schweitzer: Ehrfurcht vor dem Leben
Der Philosoph, evangelische Theologe und Arzt Albert Schweitzer (1875-1965) kritisiert in seinem Werk „Kultur und Ethik“ von 1960, dass es dem europäischen Denken als ein Dogma gelte, dass die Ethik es eigentlich nur mit dem Verhalten des Menschen zum Menschen und zur Gesellschaft zu tun habe. Auch die Philosophen Descartes, Bentham und Kant seien diesem Denken verfallen.
Tatsächlich bestehe Ethik darin, dass ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit sei das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben. Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen. Ethik sei eine ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.
Diese alles Leben umfassende Ehrfurcht vor dem Leben präge das Verhalten des Einzelnen: „Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. Er reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat acht, dass er kein Insekt zertritt. Wenn er im Sommer nachts bei der Lampe arbeitet, hält er lieber das Fenster geschlossen und atmet dumpfe Luft, als dass er Insekt um Insekt mit versengten Flügeln auf seinen Tisch fallen sieht.“vi
Wo ich irgendwelches Leben schädige, müsse ich mir darüber klar sein, ob es notwendig ist. Diejenigen, die an Tieren Operationen oder Medikamente versuchten oder ihnen Krankheiten einimpften, um mit den gewonnenen Resultaten Menschen Hilfe bringen zu können, dürften sich nie allgemein dabei beruhigen, dass ihr grausames Tun einen wertvollen Zweck verfolge. In jedem einzelnen Falle müssten sie erwogen haben, ob wirklich Notwendigkeit vorliegt, einem Tiere dieses Opfer für die Menschheit aufzuerlegen. Und ängstlich müssten sie darum besorgt sein, das Weh, soviel sie nur können, zu mildern. Wie viel werde in wissenschaftlichen Instituten durch versäumte Narkosen, die man der Zeit- und Müheersparnis halber unterlasse, gefrevelt. Wie viel auch dadurch, dass Tiere der Qual unterworfen werden, nur um Studierenden allgemein bekannte Phänomene zu demonstrieren.vii
Es fällt auf, dass Schweitzer Tierversuche nicht radikal ablehnt, wie er auch kein konsequenter Vegetarier oder Veganer war. Die Ehrfurcht vor dem Leben versteht er nicht als ein Moralgesetz, sondern vielmehr als eine Lebenshaltung, als eine religiöse Erfahrung.viii
Peter Singer: Die Interessen der Tiere berücksichtigen
Der australische Philosoph Peter Singer (geb. 1946) ist wie Jeremy Bentham ein Utilitarist, wobei er das Hauptaugenmerk nicht auf das, was Lust vermehrt und Unlust verringert, sondern auf das, was die Interessen der Betroffenen fördert, legt. Dabei sei die Grundvoraussetzung dafür, überhaupt Interessen haben zu können, die Fähigkeit zu leiden und sich zu freuen. Menschen hätten Interessen, Tiere ebenfalls. Im Hinblick auf Tierversuche hätten die Menschen Interesse an den Versuchen, weil sie ihnen zu neuen Erkenntnissen und zu Gesundheitsschutz verhelfen. Die Tiere dagegen hätten das Interesse, nicht gequält zu werden und nicht zu leiden. Die Interessen von Menschen und Tieren seien gleichermaßen zu berücksichtigen. Singer kritisiert, dass die Experimentatorinnen und Experimentatoren stets zugunsten ihrer eigenen Gattung, dem Menschen, voreingenommen seien. Menschenaffen, kleinere Affen, Hunde, Katzen und selbst Mäuse und Ratten seien intelligenter, hätten ein stärkeres Bewusstsein von dem, was mit ihnen geschieht, und seien schmerzempfindlicher usw. als viele schwer hirngeschädigte Menschen, die in Krankenhäusern und anderen Institutionen nur gerade noch überleben. Es scheine keine moralisch relevanten Eigenschaften zu geben, die solche Menschen besäßen, während nichtmenschliche Lebewesen sie entbehrten. Somit wäre es durchaus möglich, die Versuche an diesen schwer hirngeschädigten Menschen statt an Tieren durchzuführen. Dass dies nicht getan wird, erklärt Singer damit, dass die Rechte der Gattung Tier zugunsten der Gattung Mensch missachtet werden. Diese Benachteiligung allein aufgrund der Gattung bezeichnet er als „Speziesismus“ (vom lateinischen Begriff „species“ = „Gattung/Art“).
Der Begriff „Speziesismus “ geht auf den britischen Philosophen und Psychologen Richard Ryder zurück. Nach Ryder und Singer bestehe eine große Ähnlichkeit zwischen Rassismus, der bestimmte Menschen wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert, Sexismus, der bestimmte Menschen wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit benachteiligt, und Speziesismus, der bestimmte Lebewesen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer nichtmenschlichen Gattung zurücksetzt.ix
Tom Regan: Rechte für Tiere!
Der amerikanische Philosoph Tom Regan (geb. 1983) kritisiert, dass der Utilitarismus dem Individuum zu wenig Bedeutung beimesse. Bei ihm habe die Befriedigung der Interessen eines Individuums Wert, nicht das Individuum, um dessen Interessen es sich handelt, an sich. Auch würden die Befriedigungen oder Frustrationen der einzelnen Individuen zusammengezählt. Wenn dies einer Vielzahl anderer Individuen einen großen Nutzen bringt, dürfe ein Individuum getötet werden.
Dass die utilitaristische Position zu Ergebnissen führe, die unvoreingenommene Menschen moralisch herzlos finden, veranschaulicht Regan an einem drastischen Beispiel: So könne er seine unsympathische und ziemlich reiche, aber nicht körperlich kranke „Tante Bea“ umbringen, um an ihr Geld zu kommen. Um eine hohe Besteuerung zu vermeiden, könne er eine ansehnliche Summe dem örtlichen Kinderkrankenhaus spenden. Viele, viele Kinder würden von seiner Großzügigkeit profitieren, und dies würde ihren Eltern, Verwandten und Freunden sehr viel Freude bereiten. Aus utilitaristischer Sicht hätte er nicht falsch, sondern richtig gehandelt, weil die Ermordung der „Tante Bea“ für viele Menschen einen großen Nutzen gehabt hätte. Tatsächlich sei diese Bewertung aber falsch, weil der gute Zweck nicht das schlechte Mittel heilige.
Regan vertritt die Ansicht, dass Tiere – im Blick hat er geistig normal entwickelte Säugetiere, die ein Jahr oder älter sind – wie Menschen (als „menschliche Tiere“ verstanden) als Individuen und empfindende Subjekte eines Lebens gleichermaßen einen inhärenten Wert hätten. Sie hätten einen Rechtsanspruch darauf, mit Rücksicht behandelt und nicht getötet zu werden.x
Andrew Linzey: Tierversuche als widergöttliche Opfer
Bei der Ethik der Großzügigkeit stehen – wie bei der Care-Ethik – nicht Theorien der Güterabwägung und Rechtsnormen im Vordergrund, sondern die persönliche Beziehung zu jedem einzelnen Tier und seinem Schicksal. Sie geht davon aus, dass der Status der Tiere demjenigen von Kindern ähnlich sei. Beide, Kinder und Tiere, seien nicht oder nur begrenzt zustimmungs- und ablehnungsfähig, beide könnten ihre Interessen nicht mit Worten formulieren, beide seien schuldunfähig, verwundbar und weitgehend wehr- und machtlos. Deshalb sollten sie nicht bloß den gleichen Anspruch auf die Hilfe Erwachsener haben wie andere Gruppen, sondern einen größeren und besonderen. Einer der Hauptvertreter der Ethik der Großzügigkeit ist der anglikanische Priester und Theologe Andrew Linzey (geb. 1952), der auch das Oxford Center for Animal Ethics leitet.xi
Linzey vertritt die Ansicht, dass es sich bei den Tierversuchen um widergöttliche Opfer handele. Dabei macht er deutlich, dass Tieren ebenso wie die Menschen Geschöpfe Gottes seien. Somit hätten sie bei Gott einen Wert und somit sollten sie auch bei den Menschen Wert haben. Insofern dürften sie nicht von den Menschen nach Belieben für die eigenen Zwecke und das eigene Wohlergehen benutzt werden. Tiere seien keine Geschöpfe von geringerem Wert als die Menschen und dürften daher auch nicht für irgendeinen Vorteil der Menschen geopfert werden. Opfer seien aus Sicht der Bibel ausschließlich für Gott bestimmt, nicht für Menschen. Und aus christlicher Sicht sei ein Opfer ein Opfer aus freien Stücken. So habe sich Jesus Christus nicht zwangsweise einem zornigen Gott zu dessen Besänftigung hingeben müssen, sondern er habe dies freiwillig getan, und zwar aus Liebe zu den Menschen. Tiere dagegen würden den Menschen zwangsweise hingegeben und könnten sich dagegen nicht wehren.xii
i Zitat nach René Descartes: Discours de la Méthode: Französisch – Deutsch, Hamburg 2011, S. 99.
ii Vgl. Texte zur Tiertheorie, hrsg. von R. Borgards, E. Köhring, A. Kling, Stuttgart 2015, S. 36-63; Markus Wild: Die anthropologische Differenz: Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin – New York 2006.
iii Vgl. Vgl. Texte zur Tiertheorie, hrsg. von R. Borgards, E. Köhring, A. Kling, Stuttgart 2015, S. 63-65 mit Zitat.
iv Vgl. Kurt Remele: Die Würde des Tieres ist unantastbar. Eine neue christliche Tierethik, Kevelaer 2016, S. 30-31 mit Zitat.
v Vgl. Günther Patzig, Der wissenschaftliche Tierversuch, in: U. Wolf [Hrsg.], Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 253-258.
vi Zitiert aus Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, München 1960, S. 331
vii Vgl. Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, München 1960, S. 328-341.
viii Vgl. https://albert-schweitzer-stiftung.de/wp-content/uploads/pdf/schweitzer-vegan.pdf (20.05.2017, inzwischen entfernt).
ix Vgl. Peter Singer: Rassismus und Speziesismus, in: U. Wolf [Hrsg.], Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 25-32; Peter Singer: Tierversuche, in: U. Wolf [Hrsg.], Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 232-235; Kurt Remele: Die Würde des Tieres ist unantastbar. Eine neue christliche Tierethik, Kevelaer 2016, S. 34-36.
x Vgl. Tom Regan, Wie man Rechte für Tiere begründet, in: U. Wolf [Hrsg.], Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 33-39; Kurt Remele: Die Würde des Tieres ist unantastbar. Eine neue christliche Tierethik, Kevelaer 2016, S. 36.
xi Vgl. Kurt Remele: Die Würde des Tieres ist unantastbar. Eine neue christliche Tierethik, Kevelaer 2016, S. 36-37.
xii Vgl. Andrew Linzey: Animal Theology, Urbana – Chicago 1995, S. 95-113.