Krebs ist in Deutschland die zweithäufigste Todesursache. Die Heilung der Krankheit ist äußerst schwierig, weil Krebstumore aggressiv und wandelbar sind und sich so häufig Medikamenten zu entziehen wissen. Hoffnung ruht auf sogenannten gezielten Therapien, die jedoch höchst kostspielig sind und eine Vielzahl genetisch veränderter Tiere, meist Mäuse, voraussetzen. Ist es verantwortbar, mühsame Heilungsversuche beim Menschen mit der gezielten Erzeugung von Krebs bei Hunderttausenden Mäusen zu erkaufen? Dieses ethische Dilemma schreit geradezu nach Krebsvermeidung und tierversuchsfreien Alternativmethoden. Erstere ist allerdings aufgrund der verschiedenartigen Krebsursachen nur begrenzt möglich, letztere stecken in der Krebsforschung und -medizin noch in den Kinderschuhen.
Volkskrankheit Krebs
Krebserkrankungen sind nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Mehr als zwei von fünf Frauen (43 %) und etwa jeder zweite Mann (51 %) in Deutschland erkranken im Laufe ihres Lebens an Krebs – so die aktuellen Schätzungen des Zentrums für Krebsregisterdaten (ZfKD), die auf den Erkrankungsraten und der derzeitigen Lebenserwartung basieren. Gemäß der Todesursachenstatistik ist heute etwa jeder fünfte Todesfall bei Frauen und jeder vierte bei Männern auf Krebs zurückzuführen. Die Diagnose Krebs schockiert. Krebs wird mit Hoffnungslosigkeit und Unheilbarkeit in Verbindung gebracht. Tatsächlich haben sich jedoch die Chancen der Heilung in den letzten Jahrzehnten verbessert. Vor 1980 starben mehr als zwei Drittel aller Krebspatienten an ihrer Krebserkrankung. Heute kann mehr als die Hälfte auf dauerhafte Heilung hoffen. Dass die Zahl der Neuerkrankungen in den letzten Jahren nicht abgenommen hat, sondern eine stabile bis leicht steigende Tendenz aufweist, lässt sich mit der steigenden Lebenserwartung erklären: Fast alle Krebsarten treten bei älteren Menschen sehr viel häufiger auf als bei jüngeren. Dadurch, dass sowohl Männer als auch Frauen immer älter werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Krebserkrankung buchstäblich noch „erleben“.i
Wie entsteht Krebs?
Wie Krebs entsteht, ist noch lange nicht vollständig erforscht. Allerdings kann man grundsätzlich sagen, dass die Gene der Ursprungsort der Entstehung von Krebs sind, es sich also um eine genetische Erkrankung handelt. Eine Zelle wird dann zu einer Krebszelle, wenn in ihrem Erbgut Schäden auftreten. Der Mensch hat etwa 23000 Gene in jeder Zelle, die für die Produktion je eines Proteins zuständig sind. Aus der Kombination der Proteine in bestimmten Geweben lassen sich Form und Funktion aller Organe ableiten. Nicht alle der etwa 23000 Gene sind in jeder Zelle aktiv, und in jedem Organ arbeiten sie anders zusammen. Die normalen Zellen eines Menschen teilen sich mit Ausnahme der Haut- und Haarzellen nur selten und werden erst ersetzt, wenn sie beschädigt oder verschlissen sind. Der Körper tauscht lediglich das aus, was nicht mehr funktioniert, und im Alter lässt selbst diese Fähigkeit nach. Krebszellen dagegen teilen sich ständig, das ungezügelte Wachstum ist ihr wichtigstes Merkmal.
Das ungezügelte Wachstum lässt sich mit dem Bild eines Autos erklären, wobei drei Arten von Genen eine besondere Rolle zukommt: Das Proto-Onkogen (lateinisch für Vor-Krebsgen) lässt sich mit dem Gaspedal vergleichen. So wie man bei einer Autofahrt nur dann Gas gibt, wenn man beispielsweise überholen will, gibt das Proto-Onkogen im Hinblick auf die Zellteilung nur dann Gas, wenn eine kaputte Zelle im gesunden Gewebe ersetzt werden muss. Damit die Zellteilung nicht unkontrolliert erfolgt, bedarf es eines Kontrollgens, des sogenannten Tumorsuppressorgens. Dieses hat die Funktion einer Bremse und verhindert so die Bildung eines Tumors. Tumorsuppressor-Gene (lateinisch für Tumorunterdrücker-Gene) sorgen dafür, dass das Kopieren der Gene während der Zellteilung korrekt vonstatten geht. Ist es nach der Teilung zu den unvermeidlichen Verwechslungen von Basenpaaren gekommen und das Gen funktioniert in der neuen Zelle nicht, wird der Schaden repariert. Für die Reparatur von Schäden sind die Reparaturgene da. Wird ein Proto-Onkogen durch eine Mutation zu einem Onkogen (lateinisch für Krebsgen), dann gibt es ein Dauersignal zur Zellteilung, was einem festgeklemmten Gaspedal gleichkommt. Wenn abgeschaltete oder defekte Tumorsuppressorgene – wie defekte Bremsen – dieses Gaspedal nicht lösen und die Beschleunigung stoppen können, dann entsteht Krebs.
Eine Genmutation macht noch keinen Krebs, sondern es müssen verschiedene Genmutationen zusammenkommen. Dabei gibt es Genmutationen, die harmlos sind. Diese werden in der englischsprachigen Fachliteratur „passenger“ – „Passagiere“ – genannt. Andere Genmutationen treiben dagegen den Krebs entscheidend voran. Diese werden „driver“ genannt, also „Fahrer“. Eine der größten Herausforderungen der Tumorforschung besteht darin, diese „Fahrer“ herauszupicken. Der Vergrößerung des Tumors leistet die Unsterblichkeit der Krebszellen Vorschub. Während gesunde Zellen altern oder sterben, leben Krebszellen selbst in einem toten Körper noch weiter. Ein Tumor ist in der Lage, sich sein eigenes Blutversorgungssystem aufzubauen und wird so geradezu zu einem eigenständigen Organ, das im kranken Menschen entsteht. Durch diese Fähigkeit, die als „Angiogenese“ bezeichnet wird, kann sich der Krebs über die Blutbahnen und das Lymphgefäßsystem im Körper zerstreuen und in anderen Organen Tochtergeschwulste, „Metastasen“ genannt, bilden. Diese Tochtergeschwulste stellen die größte Gefahr für die Krebspatientinnen und -patienten dar. Viele Zellen des Primärtumors und der Tochtergeschwulste werden von den körpereigenen Abwehrzellen zerstört. Im Laufe der Zeit gewinnen aber wohl alle Krebszellen die Eigenschaft, sich vor diesen im Verbund arbeitenden Abwehrzellen, den B- und T-Lymphozyten, tarnen zu können. Auch können Krebszellen die Entwicklung von Abwehrzellen hemmen oder Abwehrzellen so umprogrammieren, dass sie die Krebszellen schützen und nicht bekämpfen. So wird schließlich das körpereigene Abwehrsystem außer Kraft gesetzt.ii
Die Ursachen von Krebs
Ob eine Krebserkrankung entsteht und wie sie verläuft, wird von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst. Bei vielen Krebserkrankungen sind die Ursachen nicht bekannt oder die bekannten Auslöser lassen sich nicht beeinflussen. Zu diesen „internen“ Risikofaktoren gehören das zunehmende Alter und die genetische Veranlagung. Daneben gibt es aber auch „externe“, vermeidbare Risikofaktoren, unter denen der Tabakkonsum die größte Bedeutung hat. Eine erhebliche Rolle spielen auch Alkoholkonsum, ungünstige Ernährung, Bewegungsmangel und Übergewicht. Hinzu kommen krebserregende Substanzen wie Asbest oder Schwermetalle in der Umwelt. Während genetische Voraussetzungen in aller Regel unabänderlich sind, lässt sich über Änderungen des Lebensstils und des Lebensumfelds viel erreichen, um das Krebsrisiko zu reduzieren.iii Änderungen des Lebensstils und des Lebensumfelds vermögen das Krebsrisiko jedoch nicht zu beseitigen. Geht man mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) davon aus, dass auf diese Weise 30 % aller Krebstodesfälle verhindert werden könnten, so bleibt dennoch ein beträchtliches Restrisiko. Insofern greift die Aussage zu kurz, dass man auf Tierversuche verzichten könnte, würde man die Entstehungsursachen von Krebs stärker bekämpfen bzw. beseitigen.
Die herkömmliche, ungezielte Krebsbehandlung: Operation, Bestrahlung und Chemotherapie
Insbesondere Haut- und Brustkrebs werden gewöhnlich mittels einer Operation und – sofern diese nicht ausreicht – mittels Bestrahlung und einer Chemotherapie behandelt. Diese herkömmliche Behandlungsweise hat einen gravierenden Nachteil: Sie zerstört nicht nur kranke Zellen, sondern auch gesunde. Der Chirurg kann zwar versuchen, den Tumor zu entfernen, und den Pathologen prüfen lassen, ob alle Geweberänder tumorfrei sind, Tumornester oder gar Tochtergeschwulste an Stellen jenseits des Operationsfeldes kann er jedoch nicht sehen. Auch die Bestrahlung kann zwar genau auf den Tumor ausgerichtet werden, jedoch lässt sich nicht ganz vermeiden, dass auch gesundes Gewebe um ihn herum geschädigt wird. Ebenfalls können außerhalb des Strahlungsfeldes liegende Krebsherde nicht getroffen werden. Im Unterschied zur Operation und Bestrahlung ermöglicht die Chemotherapie mit ihren Medikamenten eine „systemische“, also den ganzen Körper betreffende Behandlung. Die als Tabletten, Spritzen oder Infusion verabreichten Wirkstoffe verteilen sich in den verschiedenen Organen und können dadurch potenziell verstreute Tumorzellen erreichen und zerstören. Eine Ausnahme ist das Gehirn, in das aufgrund der so genannten „Blut-Hirn-Schranke“ nur bestimmte Substanzen vordringen können. Der gravierende Nachteil der Chemotherapie ist ihre Ungenauigkeit, denn sie zielt auf den Tod von Zellen ab, egal ob gesund oder krank. Ihre Zellgifte stören die Zellteilung und vernichten sich teilende Zellen. Da sich Krebszellen häufiger teilen als gesunde Zellen, ist die Wahrscheinlichkeit größer, sie während der Teilung zu treffen. Ein großes Problem ist jedoch, dass die Tumorstammzellen ohne Teilung existieren können. Sie sind die „Schläfer“ des Krebstumors und werden von der Chemotherapie nicht entdeckt.iv
Gezielte Therapien
Die herkömmliche Behandlungsform ist als ungezielt oder höchstens beschränkt gezielt zu bezeichnen. Sie zieht den gesamten Körper in Mitleidenschaft, weshalb sich die Anstrengungen der Forschung darauf richten, sogenannte „gezielte Therapien“ (englisch: „targeted therapies“) zu entwickeln. Einen ungewöhnlichen Erfolg hat man bei der chronischen myeloischen Leukämie (CML), einer Art von Blutkrebs, mit dem synthetischen Molekül Imatinib unter dem Markennamen Glivec verbucht. Glivec ist nicht zytotoxisch, schädigt die Zellen also nicht, sondern ist, zytostatisch, hemmt also das Wachstum. Das Molekül dringt in die Zellen ein und fängt dort die Wachstumssignale ab. Bei fast allen Wachstumssignalen in der Zelle sind Enzyme vom Typ der Tyrosinkinase beteiligt. Die Moleküle, die das Wachstum hemmen, werden folglich als Tyrosinkinaseinhibitoren bezeichnet. Glivec stellt allerdings aus zwei Gründen eine Ausnahme dar: Zum einen erreicht kein anderes zielgerichtetes Medikament auch nur annähernd die Wirksamkeit von Glivec. Und zum anderen ist es nicht nur Ergänzung zu Standardmethoden – es ist die eigentliche Behandlung. Ein Problem stellen die hohen Kosten zielgerichteter Therapien dar. So müssen die Patienten Glivec ihr Leben lang nehmen – sonst kehrt der Krebs zurück. Die Behandlung mit Glivec kostet etwa 40000 Euro pro Jahr. Ein weiteres Problem ist, dass sie nur an einem einzigen Punkt angreifen. So können sich Krebszellen darauf einstellen und ihre Schwachstelle schützen. Daher wird versucht, mittels der geschickten Kombination von Wirkstoffen in Zukunft Resistenzbildungen zu verhindern.v
Immuntherapien zur Stärkung der körpereigenen Abwehr
Eine Alternative zu den kleinen Molekülen, die in die Zelle eingeschleust werden, sind Antikörper, die auf der Oberfläche der Krebszelle genau dort andocken, wo sie auf Gene in der Zelle einwirken können. Am bekanntesten ist der Antikörper Trastuzumab, Handelsname Herceptin, der bei der Behandlung von Brustkrebs eingesetzt wird. Es handelt sich dabei um ein relativ großes Protein, das grundsätzlich den natürlichen Antikörpern gleicht, die das menschliche Immunsystem gegen Viren und Bakterien einsetzt. Der Antikörper Trastuzumab, Handelsname Herceptin, blockiert den Herceptin-Rezeptor, der beim Andocken von Wachstumsfaktor-Molekülen Wachstumssignale an den Zellkern sendet. Im Gegensatz zu Glivec wird Herceptin gewöhnlich nicht alleine angewandt, sondern in Verbindung mit einer Chemotherapie.
Die Krebsbehandlung mit Hilfe von Antikörpern ist eine Form der Immuntherapie. Immuntherapien, die im weiteren Sinne ebenfalls als „gezielt“ bezeichnet werden können, sollen körpereigene Abwehrmechanismen aktivieren und stärken. Die im Verbund arbeitenden Abwehrzellen stellen eine Art Körperpolizei dar, die mit den Antikörpern Spezialeinheiten schaffen kann, je nachdem was gerade bekämpft werden soll. So kann die Körperpolizei möglichst sofort gegen Bakterien oder Viren vorgehen. Sie hat aber auch gelernt, körpereigenes und fremdes Gewebe zu unterscheiden. Im gesunden Körper kann sie daher Krebstumore zerstören, wenn sie sich noch im Anfangsstadium befinden. Durch Kontrollpunkte, sogenannte Checkpoints, bremst der Körper die Körperpolizei und verhindert so, dass sie gesunde Zellen angreift. Nun sind die Krebszellen jedoch schlau: Sie wissen sich zu tarnen und können ebenfalls an die Checkpoints Bremssignale aussenden. Damit die Körperpolizei auch unter solch erschwerten Bedingungen ihrer Aufgabe nachkommen kann, bedarf sie einer Sonder-Trainingseinheit: der Immuntherapie. Spezifische Antikörper wie Rituximab, Handelsname MabThera, heften sich an die Krebszellen an und verhelfen der Körperpolizei dazu, diese zu erkennen. Und andere Antikörper, zu denen Ipilimumab, Handelsname Yervoy, gegen Hautkrebs und Nivolumab gegen Lungenkrebs gehören, blockieren die Bremssignale an die Checkpoints und werden daher Checkpoint-Hemmer oder Checkpoint-Inhibitoren genannt. Die beiden großen Probleme der Immuntherapien sind die hohen Kosten und die Gefahr, dass die Körperpolizei auch gesunde Zellen angreift.vi
Der Boom der Krebsmäuse
Die gezielten Therapien und die Immuntherapien haben zu einer starken Vermehrung von Versuchen mit genetisch veränderten Tieren geführt, wobei in der Krebsforschung vor allem Mäuse zum Einsatz kommen, sogenannte Krebsmäuse. Mäuse sind dem Menschen genetisch ähnlich und ihre Gene lassen sich leicht verändern. In Mäusen werden durch das An- und Abschalten von Onkogenen und Tumorsuppressorgenen künstlich Tumore hervorgerufen und wieder zurückgebildet. Auch kann anhand der Krebsmäuse untersucht werden, wie Tochtergeschwulste entstehen und wie Krebszellen ihre Zerstörung verhindern. Da Krebskrankheiten sehr vielfältig sind, bedarf es möglichst maßgeschneiderter Mausmodelle. Mit der zunehmenden Individualisierung der Krebstherapien steigt der Bedarf immer weiter an. Dabei beruht das gängigste Verfahren zur Herstellung genetisch veränderter Mausmodelle auf der Kultur und genetischen Veränderung von embryonalen Stammzellen der Maus. Dazu werden von einer Blastozyste, also von einem erst aus wenigen Zellen bestehenden Embryo, Stammzellen entnommen. Die Stammzellen werden genetisch verändert und dann in einer anderen Blastozyste eingefügt, die wiederum einer scheinschwangeren Maus implantiert wird, die dann das heranwachsende Tier austrägt. Bei der ausgetragenen Maus handelt es sich um eine Chimäre, also um eine Maus, die aus unveränderten und veränderten Zellen besteht. Diese kann die genetische Veränderung auf ihre Nachkommen vererben, sofern sich aus den embryonalen Stammzellen auch Keimzellen entwickelt haben.vii
Die benötigten genetisch veränderten Mäuse werden – ebenso wie andere genetisch veränderte Tiere – wie Produkte behandelt. Sie werden in Katalogen verkauft und auf Vorrat gezüchtet. Sammlungen beschleunigen die Herstellung genetisch veränderter Mäuse und stellen jeder Wissenschaftlerin und jedem Wissenschaftler die für seine Forschung benötigte Maus zur Verfügung. Darüber hinaus wurden Initiativen zur Herstellung weiterer genetisch veränderter Mäuse gegründet. Auch wenn mittlerweile viele Mäuse über derartige Sammlungen und Initiativen zur Verfügung stehen, müssen spezielle, komplexere Modelle meist doch für die aktuelle Fragestellung neu entwickelt werden. Genetisch veränderte Mäuse (samt deren Nachkommen) werden patentiert, weil sie durch die Neugestaltung ihrer biologischen Merkmale als kostspielige menschliche Neuerfindungen gelten.viii
Verknüpfung von Mikrosystemtechnik mit 3D-Zellkulturen
Um Tierleid zu vermeiden, gilt es nun, die Entstehung von Krebs anhand von menschlichen Krebszellen zu untersuchen, ohne dabei Tiere zu verwenden. Einen hoffnungsvollen Ansatz stellt das Projekt CheMon3D dar, das gemeinsam von der Arbeitsgruppe Molekulare Onkologie des Universitätsklinikums Freiburg i. Br. und des Deutschen Krebsforschungszentrums und von der Arbeitsgruppe Sensoren des Instituts für Mikrosystemtechnik (IMTEK) der Universität Freiburg i. Br. entwickelt wird. Für das Forschungsprojekt werden menschliche Zellen einer besonders häufigen, aggressiven und zu Tochtergeschwulsten neigenden Form des Brustkrebses verwendet. Diese werden zu dreidimensionalen Zellkulturen weiterentwickelt und dann mittels Mikrosensortechnologie überwacht. Die im Kulturgefäß eingebauten Bio- und Chemosensoren sind winzig klein, in etwa so klein wie die Zellen. Sie erfassen den Stoffwechsel – konkret den Sauerstoff- und Glukoseverbrauch – der Tumorzellen und zeigen nahezu in Echtzeit an, wie diese auf Medikamente, die zugegeben werden, reagieren. Weil es sich um die Tumorzellen eines ganz bestimmten Menschen handelt, können Aussagen zur voraussichtlichen Wirkung bei eben diesem Menschen gemacht werden.ix
Kann das Konzept auch auf andere Krebsarten übertragen werden und so Tierversuche in der Krebsforschung überflüssig machen? Im Hinblick auf Aspekte der Technik, Sensorik und Messung spielt es – abgesehen von Details in der Handhabung – keine Rolle, welche Zelltypen verwendet werden. So wurden neben Brustkrebs- auch schon Hirn- oder Lebertumorzellen in Mikrosystemen gezüchtet und auf vergleichbare Art vermessen. Allerdings sind die Zellmodelle hinsichtlich ihrer Kultivierung und Aussagekraft unterschiedlich anspruchsvoll. Bei CheMon3D soll ein Originaltumor abgebildet werden, womit es sich um ein anspruchsvolles Modell handelt. Ähnlich anspruchsvolle andere Tumormodelle müssen erst entwickelt und erst auf ihre Funktionalität hin überprüft werden.x
Ende der Tierversuche in der Krebsforschung nicht in Sicht
Auch wenn es bereits hoffnungsvolle Projekte wie CheMon3D gibt, ist auf absehbare Zeit nicht von einem Ende der Tierversuche auszugehen. Zum einen liegt das daran, dass die bereits existierenden Projekte noch nicht vollständig ausgereift sind, zum anderen daran, dass das Gebiet der Krebsforschung höchst komplex ist. Mit dem zunehmenden Aufkommen der personalisierten Krebsmedizin hat die Herstellung von genetisch manipulierten Mäusen einen Schub bekommen, der so schnell nicht abebben dürfte. Der Kampf gegen den Krebs zieht derzeit alle Aufmerksamkeit auf sich, womit die Reduzierung der Tierversuche in der Krebsforschung und Pharmaindustrie in den Hintergrund rückt.
Nicht vernachlässigt werden darf auch die Macht von Lobbyisten und Geld. Die Entwicklung neuer Wirkstoffe ist extrem teuer und wird mit mehr als einer Milliarde Dollar pro Medikament angegeben. Mit den extrem hohen Entwicklungskosten werden seitens der Pharmaindustrie die extrem hohen Verkaufspreise der Medikamente begründet. Dabei wird in Studien bezweifelt, ob die Entwicklungskosten tatsächlich so hoch wie behauptet sind. Oftmals wird nur die Lizenz von einer (meist kleineren) Biotechnologiefirma übernommen, so dass die Kosten geringer ausfallen. Auch betreffen wirkliche Innovationen nur wenige Wirkstoffe. Der Verkaufspreis der Krebsmedikamente spiegelt die tatsächlichen Entwicklungskosten nur unzureichend wieder. Viele Medikamente heilen die Krebskrankheit auch nicht, sondern verlängern nur das Leben der Patientinnen und Patienten, und das auch nur für eine sehr begrenzte Zeit. So können für ein Jahr Lebensverlängerung Kosten von über 100000 Euro entstehen. Dagegen nehmen sich die Preis- oder Fördergelder, die sich gewöhnlich im Zehntausender- oder Hunderttausender-Bereich bewegen und jeweils nur wenigen Projekten zugute kommen, bescheiden aus. Nutznießer dieser Situation sind insbesondere die wenigen großen Pharmakonzerne, die aufgrund des Geldes und des notwendigen Einflusses auf die notwendigen Wissenschaftler in Kliniken und Zulassungsbehörden im Gegensatz zu kleineren Unternehmen in der Lage sind, ein neues Krebsmedikament auf den Markt zu bringen. Rund um die Krebsforschung und Entwicklung von Medikamenten hat sich eine ganze Industrie entwickelt, die hinsichtlich eines möglichen Verbotes oder einer erheblichen Einschränkung der Tierversuche ein gewichtiges Wort mitzureden hat. Nicht vergessen werden darf auch der Druck, der durch das Streben der Krebskranken nach Heilung oder zumindest Lebensverlängerung entsteht.xi
i Vgl. https://www.krebsinformationsdienst.de/grundlagen/krebsstatistiken.php. Im Jahr 2012 erkrankten 477950 Menschen in Deutschland neu an Krebs. Das sind etwa 650 Patienten mehr als 2010, jedoch 10860 weniger als 2011. Für das Jahr 2016 erwarten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 498700 neue Krebserkrankungen. 2012 erkrankten Männer am häufigsten an Lungenkrebs (24,8 %), Darmkrebs (11,5 %) und dem vergleichsweise harmlosen Prostatakrebs (10,8 %). Frauen waren zumeist von Brustkrebs (17,5 %), Lungenkrebs (14,6 %) und Darmkrebs (12,1 %) betroffen. Vgl. Robert Koch Institut [Hrsg.]: Krebs in Deutschland 2011/2012, 10. Ausgabe 2015; S. 19-20 (im Internet unter http://www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Publikationen/Krebs_in_Deutschland/kid_2015/krebs_in_deutschland_2015.pdf?__blob=publicationFile aufrufbar).
ii Vgl. Karl Lauterbach: Die Krebs-Industrie. Wie eine Krankheit Deutschland erobert, Berlin 2015, S. 24-46; http://www.wissensschau.de/krebs_tumor/tumor_onkogen_genmutationen.php; http://www.wissensschau.de/krebs_tumor/tumor_genmutation_umwelt_vererbung.php (19.05.2017)
iii Vgl. http://www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/ZfKD/Archiv/weltkrebstag_2016.html (19.05.2017).
iv Vgl. Karl Lauterbach: Die Krebs-Industrie. Wie eine Krankheit Deutschland erobert, Berlin 2015, S. 47-53; https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/therapieformen/chemotherapie.html (19.05.2017).
v Vgl. Karl Lauterbach: Die Krebs-Industrie. Wie eine Krankheit Deutschland erobert, Berlin 2015, S. 54-64; http://www.wissensschau.de/krebs_tumor/krebstherapie_zielgerichtete_therapien.php (19.05.2017).
vi Vgl. Karl Lauterbach: Die Krebs-Industrie. Wie eine Krankheit Deutschland erobert, Berlin 2015, S. 65-98; http://www.wissensschau.de/krebs_tumor/checkpoint-hemmer_immuntherapie.php; https://www.krebsinformationsdienst.de/wegweiser/iblatt/iblatt-immuntherapie.pdf; http://www.research.bayer.de/de/28-immuntherapien-gegen-krebs.pdfx (19.05.2017).
vii Vgl. Johannes H. Schulte, Joachim Göthert: Maßgeschneiderte Nager, in: Translationale Krebsforschung – Auf dem Weg zu neuen Therapien, Unikate 42 (2012), 42-50; http://www.zum.de/Faecher/Materialien/hupfeld/methoden/maus-knock-out/erzeug-knock-out-maus.htm (19.05.2017, inzwischen entfernt). Das Ausschalten eines Gens wird als „knockout“, das teilweise Abschalten der Funktion des Gens als „knockdown“ und das Einfügen eines Gens als „knockin“ bezeichnet.
viii Vgl. Johannes H. Schulte, Joachim Göthert: Maßgeschneiderte Nager, in: Translationale Krebsforschung – Auf dem Weg zu neuen Therapien, Unikate 42 (2012), 45, die als Beispiel für eine Sammlung genetisch veränderter Mäuse www.jax.org und als Beispiel für eine Initiative zur Herstellung weiterer genetisch veränderter Mäuse das European Conditional Mouse Mutagenesis Program (EUCOMM) nennen.
ix Vgl. http://www.pr.uni-freiburg.de/pm/2016/pm.2016-02-19.21 (19.05.2017). Ausführlich dazu: Andreas Weltin: Accessing 3D microtissue metabolism: Lactate and oxygen monitoring in hepatocyte spheroids, Biosensors and Bioelectronics 87 (2017), 941-948.
x Schriftliche Mitteilung von Andreas Weltin.
xi Ausführlich zur Krebsindustrie siehe Karl Lauterbach: Die Krebs-Industrie. Wie eine Krankheit Deutschland erobert, Berlin 2015.