Bei der Diskussion, ob Abtreibung legalisiert werden soll oder nicht, darf nicht vergessen werden, dass es zuvörderst darum geht, ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden. Dabei kommt der Sexualaufklärung eine entscheidende Rolle zu. Wer gut über seinen Körper und über die Entstehung eines Kindes informiert ist, ist für verantwortliche Sexualität und für Verhütung offen. Zwischen Bildungsgrad, sozialen Lebensumständen und ungewollter Schwangerschaft besteht ein enger Zusammenhang.
Kein Verhütungsmittel bietet einen hundertprozentigen Schutz. Erstens haben die Verhütungsmittel einen unterschiedlichen Wirkungsgrad, zweitens kann es bei jedem Verhütungsmittel zu einer Panne kommen. Eine solche Panne ist ein häufiger Grund für eine ungewollte Schwangerschaft. Insofern ist bei der moralischen Bewertung einer ungewollten Schwangerschaft Vorsicht angebracht.
Soziale Faktoren ungewollter Schwangerschaften
In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren kam es zu einer merklichen Liberalisierung der westlichen Gesellschaften. Damit ging auch vermehrte Jugendsexualität einher, denn die Sexualität wurde nicht mehr auf die Ehe begrenzt, sondern auch außerhalb der Ehe für legitim gehalten. Diese Entwicklung brachte mit sich, dass ungewollte Schwangerschaften zunehmend Jugendliche betrafen. Mit dem Wegfall von gesellschaftlichen und elterlichen Verboten mussten die Jugendlichen zunehmend selbst die Verantwortung für ihr sexuelles Verhalten übernehmen. Das gilt auch heute noch, wobei die Entwicklung zu immer früheren sexuellen Aktivitäten ein Ende gefunden hat.
Die meisten Jugendlichen verhüten bei ihrem ersten Sex. Mit zunehmender sexueller Erfahrung nimmt auch die Erfahrung bei der Verhütung zu. So kann man sagen, dass sich die Mehrzahl der Jugendlichen beim Sex durchaus verantwortungsbewusst verhält. So kommt es, dass die Zahl Teenager-Schwangerschaften gering ist.
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Bildungsgrad, sozialen Lebensumständen und ungewollter Schwangerschaft. Ein geringer Bildungsgrad sowie Arbeitslosigkeit oder ein fehlender Ausbildungsplatz führen besonders oft zu einer Schwangerschaft von Minderjährigen. Diese ist meist ungewollt und auf Anwendungsfehler bei der Benutzung von Verhütungsmitteln oder ungeschützten Geschlechtsverkehr zurückzuführen.
Bezüglich Schwangerschaftsraten, Abbruchraten und Geburtsraten gibt es große Unterschiede. In den süddeutschen Flächenstaaten Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind sie deutlich niedriger als in Stadtstaaten wie Bremen, Hamburg oder Berlin. In den Stadtstaaten leben mehr Jugendliche in sozial prekären Verhältnissen. Außerdem ist in ihnen das Sexualverhalten unkonventioneller. Hinzu kommt eine größere Dichte an Ärzten sowie Kliniken, die Abtreibungen anbieten.
Verhütungspannen
Viele ungewollte Schwangerschaften gehen auf Verhütungspannen zurück. Die sogenannten natürlichen Verhütungsmethoden sind eher unsicher, zumal wenn bei ihrer Anwendung Apps hinzugezogen werden. Sicherer sind Kondom oder Pille. Aber auch „sichere“ Verhütungsmittel sind nur dann vergleichsweise sicher, wenn sie richtig angewendet werden. Anwendungsfehler sind gerade in Kreisen mit geringer Schulbildung und prekären sozialen Lebensverhältnissen überdurchschnittlich häufig. Hinzu kommen insgesamt begrenzte Kenntnisse über Verhütungsmittel. Wenn zwar die einfache Lösung, dass Pille und Kondom vergleichsweise sicher verhüten, gelernt wurde, aber dann die Pille aus irgendeinem Grund nicht genommen wurde oder kein Kondom zur Hand war oder benutzt wurde, dann erfolgt der Geschlechtsverkehr oft ungeschützt. In einem solchen Fall sind Kenntnisse über Menstruation und Zyklus sowie über natürliche Verhütungsmethoden erforderlich. Nur so lässt sich vermeiden, dass der ungeschützte Geschlechtsverkehr zu einem Zeitpunkt stattfindet, an dem die Wahrscheinlichkeit der Zeugung eines Kindes erhöht ist. Die notwendigen Kenntnisse und die Fähigkeit zur aufmerksamen Körperwahrnehmung fehlen den Jungen und Mädchen mit geringer Schulbildung und in prekären Lebensverhältnissen oft.
Fehlende Notfallverhütung
Ist anzunehmen, dass es zu einer Befruchtung der Eizelle gekommen ist, dann kann ein ungewolltes Kind noch durch die sogenannte Notfallverhütung mittels „Pille danach“ oder „Spirale danach“ vermieden werden. Dafür muss das Mädchen bzw. die Frau aber die „Pille danach“ oder „Spirale danach“ kennen. Außerdem muss das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft wahrgenommen werden. Wer die Verhütungspanne nicht bemerkt hat oder eine Schwangerschaft nicht für möglich hält, wird keinen Notfall erkennen und auch nicht entsprechend handeln. Und schließlich ist noch anzumerken, dass die „Pille danach“ und die „Spirale danach“ überhaupt erst erworben werden müssen. Die „Pille danach“ ist rezeptfrei in der Apotheke erhältlich, muss dann aber aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Die „Spirale danach“ muss verschrieben und von einer Ärztin bzw. einem Arzt mit den notwendigen Kenntnissen eingesetzt werden. Sowohl finanzielle Schwierigkeiten als auch Hemmungen, eine Ärztin bzw. einen Arzt aufzusuchen, können dazu führen, dass auf die Notfallverhütung verzichtet wird.i
Sexualaufklärung in der Schule
Schulische Sexualaufklärung ist in Deutschland in unterschiedlichen Jahrgangsstufen verpflichtend vorgeschrieben. Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland verfügen deshalb auch über ein breites Wissen zu den physiologischen Grundlagen der Sexualität und Fortpflanzung und weisen eine hohe Verhütungskompetenz auf. Die Schule ist die wichtigste Informationsquelle: Bei einer repräsentativen Wiederholungsbefragung der Repräsentativstudie „Jugendsexualität 9. Welle“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gaben 69 % der Jugendlichen an, dass ihre Kenntnisse rund um Themen der Sexualität und Verhütung aus der Schule stammen. Auch persönliche Gespräche und Internet spielen eine wichtige Rolle: Sie wurden von 68 % bzw. 59 % als Wissensquelle genannt. Mit großem Abstand folgen Jugendzeitschriften (34 %) und weitere Medien.
Allerdings haben 30 % der Jungen und 26 % der Mädchen mit einfacherem (angestrebtem) Schulabschluss haben nach eigenen Angaben bisher keine Sexualerziehung in der Schule erhalten. Mit einem niedrigeren Bildungsniveau geht also ein geringeres Maß an Sexualaufklärung einher. Von den muslimischen Mädchen und Jungen gaben 25 % – insbesondere diejenigen mit enger religiöser Bindung – an, keine schulische Sexualerziehung gehabt zu haben.
Ein Rückgang im Vergleich zu 2014 ist bei der schulischen Vermittlung des Themenbereiches „Entwicklung des Ungeborenen, Schwangerschaft
und Geburt“ festzustellen.ii
i Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [Hrsg.], Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen (Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung), 4. aktualisierte Aufl., Köln 2009.
ii Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [Hrsg.], Jugendsexualität 9. Welle – Sexualaufklärung in der Schule, Faktenblatt Juli 2021, https://shop.bzga.de/bzga-repraesentativstudie-jugendsexualitaet-9-welle/ (aufgerufen am 31.05.2022).