Gemäß den beiden Urteilen des Bundesverfassungsgerichts von 1975 und 1993 ist der Gesetzgeber angehalten, für einen wirksamen Schutz der Ungeborenen zu sorgen. Dabei wurde der Gesetzgeber nicht auf strafrechtliche Bestimmungen verpflichtet. Somit kann der Schutz auch durch zivilrechtliche Bestimmungen und/oder eine Beratungsregelung bewerkstelligt werden. Im Urteil von 1993 wurde allerdings deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber nicht frei auf strafrechtliche Bestimmungen verzichten kann. Dementsprechend wurde bei der rechtlichen Neuregelung im Jahr 1995 der Schwangerschaftsabbruch wieder im Strafgesetzbuch aufgenommen. Allerdings werden in der Rechtspraxis nur sehr wenige Schwangerschaftsabbrüche bestraft. Aufgrund der Beratungsregelung und – von deutlich geringerer Bedeutung – der Indikationen bleibt die große Mehrheit der Abbrüche straffrei.
Begrenzter Schutz durch die Beratungsregelung
Ein Schwangerschaftsabbruch bleibt straffrei, wenn sich die Frau vor dem Abbruch hat von einer anerkannten Beratungsstelle beraten lassen. Zu diesem Zweck stellt die Beratungsstelle einen sogenannten Beratungsschein aus, den die Frau dem Arzt, der den Abbruch vornimmt, vorlegen muss. Auch wenn die verpflichtende Beratung von manchen Frauen als lästig oder gar entwürdigend empfunden wird, stellt sie eine niedrige Hürde dar. Die Frau darf frei wählen, von welcher anerkannten Beratungsstelle sie sich beraten lassen will. Auch darf sie letztendlich selbst entscheiden, ob sie einen Abbruch vornehmen lassen will oder nicht. Die Beratung soll einerseits zum Schutz des ungeborenen Kindes beitragen, andererseits der Unterstützung der Schwangeren (und ihres Partners/Ehemannes) in der Konfliktsituation dienen. Kurz: Es handelt sich um eine frühzeitige Hilfe für Eltern und Kind.
Dem Grunde nach müssen anerkannte Beratungsstellen gänzlich unabhängig von Stellen agieren, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Insofern ist es fragwürdig, wenn ein Träger (pro familia) sowohl Schwangerschaftskonfliktberatung anbietet als auch in eigenen medizinischen Zentren Schwangerschaftsabbrüche durchführt.i Hier besteht ein Interessenkonflikt und ein finanzieller Konflikt, weil mit den Abbrüchen Geld verdient wird.
Indikationen spielen eine untergeordnete Rolle
Die medizinische und kriminologische Indikation (vgl. § 218a Abs. 2-3) erfolgt „nach ärztlicher Erkenntnis“. Dabei kann sich die Schwangere den Arzt aussuchen. Der Arzt ist auf die Informationen der Schwangeren angewiesen und kann diese nur begrenzt nachprüfen. Der Arzt muss auch keine besonderen Fachkenntnisse haben, also Frauenarzt sein. Er muss nur approbiert sein. Insofern könnte es sich um einen Urologen oder Ohrenarzt handeln. Diese Vorgabe ist nicht streng.
Für die medizinische Indikation ist eine konkret drohende Gesundheitsgefährdung erforderlich. An diese stellen die Gerichte strenge Maßstäbe. Daher spielt die medizinische Indikation ebenso wie die kriminologische Indikation statistisch gesehen nur eine untergeordnete Rolle.ii
Die embryopathische Indikation ist in den 1990er Jahren abgeschafft worden, insbesondere auf Betreiben der Behindertenbewegung, die Schwangerschaftsabbrüche allein auf Grundlage einer Behinderung des Fetus ablehnte. Allerdings fanden pränatale (= vorgeburtliche) Diagnosen Eingang in die neu gefasste medizinische Indikation. Bei dieser liegt der Fokus eigentlich auf der psychischen Gesundheit der Schwangeren, aber es kann auch eine zu erwartende Behinderung des Kindes zur Feststellung der medizinischen Indikation führen. Behinderung wird mit Leid gleichsetzt und ein Leben von und mit einem
behinderten Kind automatisch als weniger lebenswert einstuft. Dabei können aber auch Menschen mit Behinderung oder auch deren Familien mit ihrem Leben zufrieden sein.iii
Sehr wenige Strafverfahren
Die geringe Bedeutung von Strafverfahren hinsichtlich Vergehen in Sachen Schwangerschaftsabbruch lässt sich exemplarisch am Beispiel des Landes Baden-Württemberg ersehen: In den Jahren 2018 bis 2020 gab es nur eine einzige Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen eines Vergehens nach § 218 StGB (= Strafgesetzbuch). Weitere Verurteilungen erfolgten nicht, auch nicht im Hinblick auf unerlaubte Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft § 219a. Weiterführende Informationen zu den Umständen der Anzeigeerstattung und des Strafverfahrens liegen nicht vor.iv
Deutschlandweit gab es im Jahr 2017 lediglich zwölf Verurteilungen nach § 218 StGB und eine Verurteilung nach §§ 219a, 219b StGB, im Jahr 2018 fünf Verurteilungen nach § 218 StGB und eine Verurteilung nach § 218b Abs. 1 StGB sowie im Jahr 2019 elf Verurteilungen nach § 218 StGB und zwei Verurteilungen nach §§ 219a, 219b StGB.v
Alles in allem lässt sich festzustellen, dass die Grundrechte der Mutter des Schutz des Ungeborenen in erheblichem Maße einschränken. Das ungeborene Kind hat eine rechtliche Sonderstellung inne und ist dem geborenen Kind schlechter gestellt. Das zeigt sich neben den Besonderheiten der Rechtsfähigkeit besonders deutlich bei der Abwägung von Rechten und Interessen von Mutter und Kind.vi
i Die medizinischen Zentren führt https://www.profamilia.de/ueber-pro-familia/medizinische-zentren (aufgerufen am 10.02.2022) auf.
ii Zur Situation im Strafrecht siehe Hans Hofmann, Das Lebensrecht des Nasciturus. Zivilrechtliche Aspekte der Abtreibung, Diss., Bonn 1992, 9-14.
iii Vgl. Gen-ethisches Netzwerk e. V., Stellungnahme zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vom 10.10.2023.
iv Vgl. Ministerium der Justiz und für Migration des Landes Baden-Württemberg, schriftliche Antwort vom 09.03.2022 auf eine schriftliche Anfrage.
v Vgl. Stellungnahme des Berufsverband der Frauenärzte e.V. (BVF) vom 09.10. 2023 zur Frage, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen eine Regelung zum Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs möglich ist.
vi Vgl. Franziska Mürmann, Der zivilrechtliche Schutz des ungeborenen Kindes vor seiner Mutter (Schriften zum Internationalen Privatrecht und zur Rechtsvergleichung 49), Osnabrück 2022, 182-183.