Die Bundesrepublik Deutschland ist dem Wesen nach eine repräsentative Demokratie. Das bedeutet, dass die Staatsgewalt durch gewählte Volksvertreter ausgeübt wird. Außerdem gibt es zur Ausübung der Staatsgewalt die benötigten Organe. Direkte Demokratie ist auf Bundesebene nur in engen Grenzen vorgesehen. So sieht das Grundgesetz zwar Abstimmungen vor, allerdings nicht ausdrücklich bundesweite Volksentscheide. Um diese zu ermöglichen, bedarf es nach verbreiteter Meinung einer Grundgesetzänderung.
Volksentscheide lassen sich grundsätzlich auf verschiedenem Wege einleiten. Einer der Wege ist die Volksgesetzgebung, bei der aus dem Volk heraus eine Gesetzesinitiative gestartet wird. Diese mündet, sofern es zu einem erfolgreichen Volksbegehren kommt, in einen Volksentscheid.
Bevor in der Bundesrepublik Deutschland die Volksgesetzgebung eingeführt werden kann, müssen verschiedene verfassungsrechtliche Aspekte bedacht werden. Die Volksgesetzgebung muss so gestaltet werden, dass sie mit den bereits bestehenden Institutionen der Gesetzgebung (Legislative) und Rechtsprechung (Judikative) kompatibel ist.
Bundestag
Die Legislative, also gesetzgebende Gewalt, steht in einer repräsentativen Demokratie mit Gewaltenteilung dem Parlament zu. In der Bundesrepublik ist das der Bundestag. Die wichtigsten Aufgaben der gesetzgebenden Gewalt sind die Gesetzgebung und die Kontrolle der Bundesregierung, der Exekutive.i
Volksgesetzgebung kann nicht die Gesetzgebung seitens des Bundestages ersetzen. Die Initiatoren von Volksbegehren können nicht in dem Maße auf das Fachwissen der Behörden zurückgreifen, wie es den Abgeordneten des Bundestages möglich ist. Auch sonst sind die Informationsmöglichkeiten begrenzt. Ein zulässiger Gesetzentwurf bedarf zudem juristischer Expertise, die nur Fachleute leisten können. Solche Fachleute haben nur größere Verbände und Organisationen in ihren Reihen. Externe Fachleute müssen (zusätzlich) bezahlt werden. Das Geld für die Finanzierung der Honorare haben meist ebenfalls nur größere Verbände und Organisationen zur Verfügung. Zusätzlich müssen Fachleute zum betreffenden Thema herangezogen und möglicherweise (zusätzlich) bezahlt werden. Unausgereifte Gesetzentwürfe können zwar durchaus bei einem Volksentscheid die Mehrheit bekommen, verschaffen aber dem Gesetzgeber und möglicherweise auch der Regierung letztendlich Mehrarbeit, weil sie weitere Gesetzesänderungen und auch Vertragsänderungen oder -auflösungen nach sich ziehen können. Es ist schwer, die beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen einer Gesetzesänderung vorherzusehen. Das gilt in besonderem Maße für Initiatoren von Volksbegehren und auch für die Wahlberechtigten, die sich gewöhnlich nicht hauptberuflich, sondern nur nebenher mit Politik befassen.
Es gilt zu klären, welche Formen von Volksentscheiden möglich sein sollen. Zu den direktdemokratischen Verfahren gehören die Volksinitiative, das obligatorische Referendum und das fakultative Referendum. Die Volksinitiative wird aus dem Volk heraus gestartet, das obligatorische Referendum erfolgt gewöhnlich bei Verfassungsänderungen seitens eines Parlamentes und das fakultative Referendum erfolgt bei einer Verfassungs- oder Gesetzesänderung seitens des Parlamentes, sofern es eine Initiative fordert.
Ebenfalls zu klären ist, ob Volksbegehren nur zur Verfassung, nur zu einfachen Gesetzen oder zu Verfassung und zu einfachen Gesetzen möglich sein sollen. Außerdem sind die zulässigen Abstimmungsgegenstände zu klären. Den Landesverfassungen entsprechend könnten Volksbegehren zu „haushaltswirksamen Gesetzen“ ausgeschlossen werden, wobei sich dann das Problem der Definition stellt. Die meisten Bundesgesetze haben nämlich in irgendeiner Form Auswirkungen auf den Finanzhaushalt des Bundes.
Bundesrat
Bundesrecht steht über Landesrecht. Insofern haben Änderungen des Grundgesetzes und einfacher Bundesgesetze häufig Auswirkungen auf Landesrecht. Gemäß Artikel 79 Absatz 3 GG (= Grundgesetz) haben die Länder grundsätzlich das Recht, bei der Gesetzgebung mitzuwirken. Dieses Recht ist unumstößlich.
In einem Bundesstaat ist der Gesamtstaat für alles zuständig, was einheitlich geordnet werden muss. Die anderen Angelegenheiten werden von den Gliedstaaten, den Ländern, geregelt. Allerdings ist die Zuständigkeit der Länder bei der Gesetzgebung sehr beschränkt. Sie beschränkt sich vor allem auf die Bildung, die Kultur und auf das Polizei- und Ordnungsrecht. Damit bei der Bundesgesetzgebung die Interessen der Länder nicht übergangen werden, bedarf es eines Verfassungsorgans des Bundes, das als Bindeglied zwischen Bund und Ländern dient und die Interessen der Länder vertritt. In Deutschland ist dieses Verfassungsorgan der Bundesrat. Laut Art. 50 GG wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und bei Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Grundsätzlich kommt kein Bundesgesetz zustande, ohne dass der Bundesrat damit befasst war. Dabei wird zwischen Zustimmungsgesetzen und Einspruchsgesetzen unterschieden. Zustimmungsgesetze können nur dann in Kraft treten, wenn der Bundesrat ihnen ausdrücklich zustimmt. Zustimmungsbedürftig sind insbesondere verfassungsändernde Gesetze, aber auch alle Gesetze, die die Finanzen und Verwaltungszuständigkeit der Länder betreffen.ii Stimmt der Bundesrat dem Gesetz nicht zu, so kann er den Vermittlungsausschuss anrufen. Hauptaufgabe des Vermittlungsausschusses ist es, die unterschiedlichen Vorstellungen von Bundestag und Bundesrat hinsichtlich eines Gesetzgebungsvorhabens zum Ausgleich zu bringen. Dem Kompromiss müssen sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat zustimmen.iii Bei Einspruchsgesetzen ist der Einfluss des Bundesrats geringer. Bei ihnen kann der Bundesrat seine abweichende Meinung nur dadurch zum Ausdruck bringen, dass er Einspruch gegen das Gesetz einlegt. Dieser kann durch den Deutschen Bundestag jedoch überstimmt werden, und zwar mit der sogenannten Kanzlermehrheit (= die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages). Änderungen an einem vom Bundestag beschlossenen Gesetz kann der Bundesrat grundsätzlich nicht vornehmen.iv
Wenn kein Bundesgesetz zustande kommt, ohne dass der Bundesrat damit befasst war, liegt es nahe, dass auch bei der Gesetzgebung durch Volksentscheide der Bundesrat einbezogen wird. Bei einem Volksentscheid entscheidet die Mehrheit des Volkes. Er kann also als „Volksmehr“ bezeichnet werden. Damit die Interessen der Länder nicht übergangen werden, kann – nach Schweizer Vorbild – festgelegt werden, dass darüber hinaus eine Mehrheit der Länder zustimmen muss. Das wäre dann das „Ländermehr“ (in der Schweiz als „Ständemehr“ bezeichnet). Dabei ist zu klären, welches Gewicht die einzelnen Länder bekommen sollen. Auch ist die geforderte Mehrheit festzulegen. Im Bundesrat stehen den Ländern unterschiedlich viele Stimmen zu. Beschlüsse werden (gemäß Art. 52 Abs. 3 GG) mit absoluter Mehrheit und bei Verfassungsänderungen mit Zweidrittelmehrheit der Gesamtstimmen gefasst. Bei der Ermittlung des „Ländermehrs“ kann entsprechend verfahren werden. Es sind aber auch andere Regelungen möglich.
Allerdings ist die Übertragung des schweizerischen „Ständemehrs“ auf Deutschland nicht ohne Weiteres möglich. Erstens würde das „Ländermehr“ nur bei zustimmungspflichtigen Gesetzen greifen. Zweitens würde sich die Frage stellen, wie ein Vermittlungsverfahren aussehen soll. Die Anrufung des Vermittlungsausschusses und das anschließende Vermittlungsverfahren werden ja von gewählten oder delegierten Vertretern wahrgenommen. Drittens sind die Befugnisse der schweizerischen Kantone weitreichender als die Befugnisse der deutschen Bundesländer.
Bundesverfassungsgericht
Einfache Gesetze dürfen nicht gegen die Verfassung verstoßen. Wenn der Verdacht besteht, dass ein Gesetz gegen das Grundgesetz (ursprünglich als Provisorium gedacht, wird es seit der Wiedervereinigung und der Übernahme in ganz Deutschland als Verfassung verstanden) verstößt, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden.
Das Bundesverfassungsgericht ist der oberste Gerichtshof der Bundesebene. Es wird nur auf Antrag tätig, d. h. wenn eine Verfassungsbeschwerde erhoben wird. Sie kann sich gegen die Maßnahme einer Behörde, gegen das Urteil eines Gerichts oder gegen ein Gesetz richten. Da das Bundesverfassungsgericht die Deutungshoheit bezüglich des Grundgesetzes und auch bezüglich einfacher Gesetze inne hat, greift es in erheblichem Maße in die Politik ein.v
Volksinitiativen zu einfachen Gesetzen bergen die Gefahr, dass der Gesetzesvorschlag gegen das Grundgesetz verstößt. Wenn der Verdacht besteht, dann kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Das bringt bis zum Urteil Rechtsunsicherheit mit sich. Wenn nur Verfassungsinitiativen (= Volksinitiativen, die die Verfassung betreffen) zulässig sind, nicht jedoch Volksinitiativen zu einfachen Gesetzen, dann werden mögliche Verstöße gegen die Verfassung vermieden. Wenn in allen Fragen, die die Verfassung berühren, das Letztentscheidungsrecht dem Volk obliegt, dann stellt sich die Frage, ob es eines Bundesverfassungsgerichtes bedarf, das die nationalen Gesetze auf die Verfassungsmäßigkeit prüft. Das Schweizer Bundesgericht prüft als nationales Verfassungsgericht nur, dass kantonale Gesetze nicht gegen das höherrangige Bundesrecht oder gegen die Bundesverfassung verstoßen. Die Konkretisierung der Verfassung obliegt dem Volk. Es kann entweder Initiativen starten und Gesetzentwürfe zur Abstimmung stellen oder verlangen, dass von der Bundesversammlung verabschiedete Gesetze dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden (fakultatives Referendum). Daher bedarf es keiner Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bundesgesetze durch das Schweizer Bundesgericht. Die Möglichkeit fakultativer Referenden könnte auch bei Gesetzen des Deutschen Bundestages vorgesehen werden.vi
i Vgl. https://www.bundestag.de/services/glossar/glossar/L/legislative-245488 (aufgerufen am 07.12.2022).
ii Vgl. https://www.bundesrat.de/DE/aufgaben/gesetzgebung/gesetzgebung-node.html (aufgerufen am 07.12.2022).
iii Vgl. https://www.vermittlungsausschuss.de/VA/DE/aufgaben-arbeitsweise/aufgaben/aufgaben-node.html (aufgerufen am 07.12.2022).
iv Vgl. https://www.bundesrat.de/DE/aufgaben/gesetzgebung/gesetzgebung-node.html (aufgerufen am 07.12.2022).
v Vgl. https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-Gericht/das-gericht_node.html (aufgerufen am 07.12.2022).
vi Zu den Verfassungsfragen hinsichtlich der direkten Demokratie siehe Frank Decker, Der Irrweg der Volksgesetzgebung: Eine Streitschrift, Bonn 2016, 149-170 und Frank Decker, Volksgesetzgebung im parlamentarisch-repräsentativen System: ein verfassungspolitischer Irrweg, in: H. K. Heußner, A. Pautsch, F. Wittreck [Hrsg.], Direkte Demokratie, FS O. Jung, Stuttgart 2021, 13-43. Er vertritt die Ansicht, dass die Volksgesetzgebung für den Bund nicht geeignet sei, ist jedoch unter bestimmten Voraussetzungen für Referenden auf Bundesebene offen.