Tierversuche sind in der EU unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen. Dabei wird jedoch angestrebt, das den Tieren zugefügte Leid zu vermindern. Dies geschieht auf Grundlage des 3R – Prinzips, wobei die 3R für „Replacement“ („Vermeidung“), „Reduction“ („Verminderung“) und „Refinement“ („Verbesserung“) stehen.
Tierversuche hinter verschlossenen Türen
Tierversuche sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern finden gewöhnlich hinter verschlossenen Türen statt. Als Gründe werden Firmengeheimnisse genannt oder der Schutz der Tiere. Besucher könnten Krankheitserreger einschleppen oder die Tiere erschrecken. Selbst wenn bestimmten Personengruppen, z. B. Schulklassen oder auch Journalisten und Journalistinnen, Einlass gewährt wird, erhalten diese keinen wirklichen Einblick in die Durchführung von Tierversuchen. In erster Linie wird ihnen nämlich gezeigt, wie die Tiere gehalten werden. Neben den genannten Punkten dürfte aber ein weiterer eine ganz wesentliche Rolle spielen: Insbesondere wenn interessierte Personen blutige oder leidvolle Tierversuche zu sehen bekommen, birgt dies die Gefahr, dass diese das Labor als Tierversuchsgegnerinnen und -gegner verlassen.i So führt die Geheimhaltung dazu, dass die Bevölkerung nur vage Vorstellungen davon hat, was für Tierversuche eigentlich gemacht werden.
Unterschiedliche Schweregrade der Tierversuche
Diejenigen, die Tierversuche durchführen, stellen gewöhnlich die harmlosen Seiten der Tierversuche in den Vordergrund. So heißt es seitens des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller e. V., dass ein großer Teil der Tierversuche in der Pharmaindustrie darin bestehe, dass Tieren eine zu untersuchende Substanz gespritzt und ihnen dann mehrfach Blut abgenommen wird. Die Auswertung der Blutproben ergebe, wie schnell die Substanz wieder ausgeschieden wird und ob sie im Körper umgewandelt wird. Während des Versuches werde beobachtet und gemessen, welche Wirkungen und Nebenwirkungen eintreten, wozu auch Verhaltensauffälligkeiten gehören könnten. Die Belastung der Tiere entspreche dabei in etwa dem, was auch bei einem Tierarztbesuch in Kauf zu nehmen ist. Nach einer Karenzzeit von einigen Wochen könnten die Tiere erneut an einem Versuch teilnehmen. Für einige andere Versuche sei es nötig, bei Tieren eine menschliche Krankheit nachzubilden – etwa eine Tumorerkrankung oder eine Blutmangelversorgung des Herzens. Dies sei mit Symptomen wie beim Menschen verbunden, die aber im Versuch soweit wie möglich gelindert würden. Insbesondere kämen, wo immer möglich, Schmerzmittel und Narkose zum Einsatz. Operative Eingriffe würden unter Vollnarkose vorgenommen. Falls durch einen Eingriff größere Schäden verursacht werden, würden die Tiere direkt von der Narkose aus eingeschläfert. Nur bei wenigen Tierversuchen könne nicht vermieden werden, dass Tiere Schmerzen oder andere schwere Symptome zu spüren bekommen (z. B. in der Forschung zu rheumatischen Erkrankungen). An Alternativen dazu werde intensiv gearbeitet.ii
Die Ärzte gegen Tierversuche e. V. kritisieren solche ihrer Meinung nach verharmlosende Darstellungen. Ein Blick in ihre Internet-Datenbank beweise, dass viele der Beschreibungen von Tierversuchen an Grausamkeit nicht zu überbieten sind. Die Internet-Datenbank dokumentiere stichprobenweise Tierversuche, die in Deutschland genehmigt, durchgeführt und veröffentlicht wurden. Die Daten basieren auf Fachartikeln der Experimentatorinnen und Experimentatoren selbst. Weil Tierversuche im Bereich der gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuche der pharmazeutischen und chemischen Industrie als angebliche Betriebsgeheimnisse nur selten veröffentlicht würden, seien sie in der Datenbank unterrepräsentiert. Der Schwerpunkt dieser Sammlung liege auf der Grundlagen- und medizinischen Forschung. Nichts sei erfunden. Man könne davon ausgehen, dass die Realität noch weitaus schlimmer ist, als die „neutral-sachliche“ Wissenschaftssprache preisgibt. In manchen Fachartikeln werde die Vorgehensweise wie in einem Kochrezept beschrieben:
„Man nehme: viele Mäuse, schneide ihnen den Bauch auf, steche ein paar Mal in den Blinddarm, so dass Darminhalt in die Bauchhöhle fließen kann, und nähe die Maus wieder zu. Durch den Darminhalt gelangen Bakterien in die Bauchhöhle und verursachen eine schwere, äußerst schmerzhafte Bauchfellentzündung mit Blutvergiftung. Je nach Anzahl und Größe der Löcher sterben die Mäuse mehr oder weniger schnell.“iii
Das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig empfehle so die Vorgehensweise bei der Erstellung eines „Mausmodells“ für eine Bauchfellentzündung mit Blutvergiftung. Es werde beschrieben, welche Zutaten man braucht, um praktischerweise die „gewünschte Todesrate“ zu variieren.iv
Dass die Darstellung des Leids, das den Tieren zugefügt wird, so unterschiedlich dargestellt wird, hängt zum einen mit den entgegengesetzten Interessenlagen der beiden unversöhnlichen Lager zusammen, zum anderen aber auch damit, dass die Tierversuche in verschiedenem Maße leidvoll sind. So kennt die EU-Tierversuchsrichtlinie vier verschiedene Schweregrade der Verfahren: keine Wiederherstellung der Lebensfunktion, gering, mittel schwer.
Keine Wiederherstellung der Lebensfunktion: Verfahren, die gänzlich unter Vollnarkose durchgeführt werden, aus der das Tier nicht mehr erwacht.
Gering: Verfahren, bei denen zu erwarten ist, dass sie bei den Tieren kurzzeitig geringe Schmerzen, Leiden oder Ängste verursachen sowie Verfahren ohne wesentliche Beeinträchtigung des Wohlergehens oder des Allgemeinzustands der Tiere.
Mittel: Verfahren, bei denen zu erwarten ist, dass sie bei den Tieren kurzzeitig mittelstarke Schmerzen, mittelschwere Leiden oder Ängste oder lang anhaltende geringe Schmerzen verursachen sowie Verfahren, bei denen zu erwarten ist, dass sie eine mittelschwere Beeinträchtigung des Wohlergehens oder des Allgemeinzustands der Tiere verursachen.
Schwer: Verfahren, bei denen zu erwarten ist, dass sie bei den Tieren starke Schmerzen, schwere Leiden oder Ängste oder lang anhaltende mittelstarke Schmerzen, mittelschwere Leiden oder Ängste verursachen sowie Verfahren, bei denen zu erwarten ist, dass sie eine schwere Beeinträchtigung des Wohlergehens oder des Allgemeinzustands der Tiere verursachen.
Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass ein Verfahren nicht durchgeführt wird, wenn es starke Schmerzen, schwere Leiden oder schwere Ängste verursacht, die voraussichtlich lang anhalten und nicht gelindert werden können. Dabei sind wissenschaftlich begründete Ausnahmen zugelassen.v
Wer sich einen Überblick über die durchgeführten Tierversuche und ihre Schweregrade verschaffen will, kann dies am besten mittels der Internet-Datenbank von Ärzte gegen Tierversuche e. V. oder mittels der Internet-Datenbank des Bundesinstituts für Risikoforschung (BfR), AnimalTestInfo, tun. AnimalTestInfo stellt der Öffentlichkeit die allgemein verständlichen Projektzusammenfassungen zur Verfügung. Hier sind alle Vorhaben, deren Durchführung von wissenschaftlichen Forschungsinstituten der Universitäten, der Industrie und des Bundes beantragt und von den zuständigen Behörden der Bundesländer genehmigt wurden, enthalten. Die Antragstellerinnen und Antragsteller sind für den Inhalt der vom BfR veröffentlichten Projektzusammenfassungen verantwortlich.vi
Das 3R – Prinzip
Maßgeblich für die Tierversuche betreffende Gesetzgebung seitens der EU und in Deutschland ist das 3R – Prinzip. Dieses geht auf das Jahr 1954 zurück. Damals beauftragte die Universities Federation for Animal Welfare (UFAW) einen jungen Forscher namens William Moy Stratton Russell, einen Bericht über die Fortschritte der humanen Forschung im Labor zu schreiben. Er wurde dabei von Rex Leonard Burch unterstützt, einem späteren Mikrobiologen, der für diesen Bericht durchs Land reiste und Hunderte Forscherinnen und Forscher interviewte. Auf diese Weise entstand ein revolutionärer Bericht, die „Principles of Humane Experimental Technique“ (1959), die den Grundstein für die 3R legen sollten. Revolutionär war der Bericht insofern, als sich damals nur wenige um das Wohl der Versuchstiere ernsthafte Gedanken machten. Es herrschte die Ansicht vor, dass Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse des Versuchstieres ein überflüssiges Hindernis für die Forschung darstelle.vii
Die drei R – auf Deutsch drei V – sollen das Leid der Tiere vermindern und setzen sich aus den „R“ von „Replacement“, „Reduction“ und „Refinement“ zusammen. „Replacement“ („Vermeidung“) steht für den Ersatz eines Tierversuchs. So ist gemäß dem deutschen Tierschutzgesetz § 7a Abs. 2 Nr. 2 zu prüfen, ob der verfolgte Zweck nicht durch andere Methoden oder Verfahren erreicht werden kann. „Reduction“ („Verminderung“) steht für die Verpflichtung, die Anzahl der Tiere eines Versuches auf ein Mindestmaß zu reduzieren oder von der gleichen Anzahl Tiere mehr Information zu gewinnen. Und „Refinement“ („Verbesserung“) strebt die Veränderung des Tierversuchs an, um das Leiden der Tiere bei Versuchen zu vermindern. Dazu gehören die Verwendung weniger hoch entwickelter Tierarten, die artgerechte und wirksame Betäubung (Anästhesie) bzw. die Aufhebung des Schmerzempfindens (Analgesie) der Versuchstiere, die Verbesserung der Messverfahren, die bestmögliche tiermedizinische Betreuung nach Beendigung des Tierversuchs und schließlich auch verbesserte Haltungsbedingungen.viii Alle Verfahren, die Tierversuche ersetzen, die Zahl der Versuchstiere reduzieren oder das Leid der Versuchstiere mindern können, werden als „Alternativmethoden“ bezeichnet.
Die Basler Deklaration, die bisher von 4000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Wissenschaftsinstituten und -organisationen unterzeichnet wurde, erkennt das 3R-Prinzip ausdrücklich an, fordert darüber hinaus aber, dieses kontinuierlich weiterzuentwickeln und dafür Sorge zu tragen, dass die Weiterentwicklung zügig und effektiv umgesetzt wird.ix
Abschaffung der Tierversuche statt 3R – Prinzip
Von zahlreichen Tierversuchsgegnern und -gegnerinnen wird das 3R – Prinzip abgelehnt, weil es – insbesondere die beiden Rs „Reduction“ und „Refinement“ – von der Notwendigkeit von Tierversuchen ausgehe. Auch „Replacement“ sei keine Lösung, weil für die Gewinnung von Zellen oder Organen für Ersatzmethoden Tiere getötet würden.
Am 3. März 2015 wurde der Europäischen Kommission die von 1,17 Millionen Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnete Europäische Bürgerinitiative „Stop Vivisection“ vorgelegt. Mit der Initiative wird die Kommission aufgefordert, die Richtlinie 2010/63/EU (= „EU-Tierversuchsrichtlinie“) zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere außer Kraft zu setzen und einen neuen Vorschlag zu unterbreiten, der auf der Abschaffung der Tierversuche beruht und stattdessen – in der biomedizinischen und toxikologischen Forschung – verbindlich den Einsatz von Daten vorschreibt, die direkte Relevanz für den Menschen haben. Insbesondere folgende Kritikpunkte an der Richtlinie werden angeführt:
– An erster Stelle würden für die Begründung der Richtlinie wirtschaftliche Aspekte angeführt. So sollten laut Erwägungsgrund 1 die verschiedenen Vorschriften angeglichen werden, um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten. Tierversuche in Ländern mit hohen Tierschutzstandards seien teurer als Tierversuche in Ländern mit niedrigen Tierschutzstandards. Forschungseinrichtungen seien somit an einer Angleichung der Standards, und zwar möglichst nach unten hin, interessiert.
– Gemäß Art. 2 dürften die EU-Mitgliedsstaaten Vorschriften zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, die über die Bestimmungen der Richtlinie hinausgehen, aufrechterhalten, jedoch nicht neu erlassen.
– Art. 11 sehe Ausnahmen von der Regel vor, dass streunende und verwilderte Haustiere nicht in Tierversuchsverfahren verwendet werden dürfen.
– Gemäß Art. 4 und 13 müssten Alternativverfahren nicht einmal dann verpflichtend angewendet werden, wenn sie vorhanden und verfügbar sind und wissenschaftlich befriedigende Ergebnisse erzielen.
– Art. 5,8 und 55 sähen keinen ausreichenden Schutz von nichtmenschlichen Primaten vor. Eine Schutzklausel eröffne Mitgliedstaaten sogar im Ausnahmefall die Möglichkeit, vorläufig Versuche an Menschenaffen durchzuführen, und zwar selbst dann, wenn das Verfahren starke Schmerzen, schwere Leiden oder Ängste verursacht, die voraussichtlich lang anhalten und nicht gelindert werden können.
– Und schließlich sei auch ein Teil der in Anhang IV vorgesehenen Tötungsmethoden nicht akzeptabel.x
Im Gegenzug hat der Wellcome Trust in Großbritannien einen offenen Brief an die EU-Parlamentarierinnen und EU-Parlamentarier mit Unterschriften von 16 Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträgern veröffentlicht, die vor einem Ausstieg dringend warnen. Darin heißt es: „Die Arbeit mit Versuchstieren zu Forschungszwecken hat in der modernen Medizin und der Gesundheit des Menschen wichtige Fortschritte erbracht. Das Verständnis der komplexen Prozesse im Gehirn, die Entschlüsselung der Krebsgenetik und die Entwicklung der neuen Impfstoffe, Medikamente und Behandlungsmethoden, die Leben retten und die Lebensqualität verbessern, wären ohne Tierversuche unmöglich. Es ist nicht unser Wunsch, den Einsatz von Tieren in der Forschung auf unbestimmte Zeit fortzusetzen, und die Forschungsgemeinschaft ist der Suche nach alternativen Modellen verpflichtet. Aber noch sind wir nicht so weit. Bei vielen Krankheiten müssen wir verstehen, wie verschiedene Organe eines Organismus interagieren, was die Forschung an ganzen Tieren weiterhin unerlässlich macht.“xi
Mit einer ähnlichen Begründung lehnte die Europäische Kommission die Außerkraftsetzung der Richtlinie 2010/63/EU schließlich ab.
i Vgl. Corina Gericke, Was Sie schon immer über Tierversuche wissen wollten. Ein Blick hinter die Kulissen, 3., aktual. Aufl., Göttingen 2015.
ii Vgl. Verband Forschender Arzneimittelhersteller e. V. [Hrsg.], Tierversuche und Tierschutz in der Pharmaindustrie – Trends und Alternativen, Berlin 2012, S. 7. Schmerzlinderung und Betäubung werden in § 17 TierSchVersV geregelt.
iii Zitiert aus Ärzte gegen Tierversuche e. V. [Hrsg.], Winterschlaf hilft gegen Alzheimer und andere Absurditäten aus der Tierversuchsforschung, 2014, S. 27.
iv Ärzte gegen Tierversuche e. V. [Hrsg.], Winterschlaf hilft gegen Alzheimer und andere Absurditäten aus der Tierversuchsforschung, 2014, S. 5.27. Die einem Kochrezept ähnelnde Beschreibung findet sich in: Eva Medina, Murine model of polymicrobial septic peritonitis using cecal litigation and puncture (CLP), in: G. Proetzel, M. V. Wiles [eds.], Mouse Models for Drug Discovery. Methods and Protocols (Methods in Molecular Biology 602) New York 2010, S. 411-415. Die Internet-Datenbank ist unter www.datenbank-tierversuche.de abrufbar.
vVgl. Art. 15, 2010/63/EU. Die Kategorien der Schweregrade sind Anhang VIII entnommen.
viDie Datenbank AnimalTestInfo findet sich unter www.animaltestinfo.de, die Informationen des BfR sind unter http://www.bfr.bund.de/de/datenbank_animaltestinfo-192272.html abrufbar.
vii William M. S. Russell, Rex L. Burch, The Principles of Humane Experimental Techniques, London 1959. Zur Entstehung des Berichtes siehe https://animalfree-research.org/en/topics/the-3r-principle/ (06.12.2023).
viii Vgl. Winfried Ahne, Tierversuche. Im Spannungsfeld von Praxis und Bioethik, Stuttgart 2007, S. 89-92; Cornelia Exner, Tierversuche in der Forschung, hrsg. von der Senatskommission für tierexperimentelle Forschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn 2016, S. 48-51.
ix Die Webadresse der Basler Deklaration lautet www.basel-declaration.org.
xDie Webadresse der Europäischen Bürgerinitiative „Stop Vivisection“ lautet www.stopvivisection.eu. Die Mitteilung der Kommission dazu ist unter http://ec.europa.eu/environment/chemicals/lab_animals/pdf/vivisection/de.pdf aufrufbar (19.05.2017, inzwischen entfernt).
xiVeröffentlicht am 06.05.2015 in der F.A.Z., im Internet aufrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/wissen/offener-brief-von-nobelpreistraegern-fuer-tierexperimente-13578115.html (19.05.2017).