Wer für oder wider bundesweite Volksentscheide argumentiert, sollte sich klar machen, dass es in den europäischen Staaten unterschiedliche Verfahren bezüglich Volksentscheiden gibt. In einer Diskussion sollten die Verfahren also nicht über einen Kamm geschoren, sondern differenziert betrachtet werden.
Eine grobe Einteilung der Volksentscheide lässt sich danach vornehmen, ob es sich um direktdemokratische Verfahren handelt oder um obrigkeitlich ausgelöste Verfahren. Zu den direktdemokratischen Verfahren gehören die Volksinitiative, das fakultative Referendum und das obligatorische Referendum. Mit ihnen hat insbesondere die Schweiz viel Erfahrung. Frankreich dagegen hat mit ihnen dagegen wenig Erfahrung. Frankreich gilt als Musterland für obrigkeitlich ausgelöste Verfahren. Bemerkenswert ist, dass – im Gegensatz zur Schweiz – in Frankreich das Volk nicht selbst die Initiative zu einem Volksentscheid ergreifen kann.
Geringe Erfahrungen mit direktdemokratischen Verfahren
Im Zeitraum von 1945 bis 1958 war bei Totalrevision der Verfassung ein Volksentscheid vorgesehen. Zu einer solchen kam es drei Mal.
Seit 1958 gibt es zwei Arten direktdemokratischer Verfahren: Zum einen das bedingt-obligatorische Referendum bei Verfassungsänderungen (vgl. Art. 89 frz. Verfassung), zum anderen seit 2008 das bedingt-obligatorische Referendum im Sonderfall des Beitritts eines Staates zur EU (vgl. Art. 88-5 frz. Verfassung). Zunächst stimmt das Parlament, das aus den beiden Kammern Nationalversammlung (Assemblée nationale) und Senat (Sénat) besteht, über eine Verfassungsänderung oder den EU-Beitritt eines Staates ab. Stimmt das Parlament zu, muss der Präsident einen Volksentscheid in die Wege leiten. Allerdings gilt dies unter der Bedingung, dass nicht beide Kammern mit Drei-Fünftel-Mehrheit zugestimmt haben. Tatsächlich stattgefunden hat jedoch bisher kein bedingt-obligatorisches Referendum.
Präsidialreferenden als gängige Praxis
In Frankreich waren seit 1958 alle Volksentscheide Präsidialreferenden (oder: Präsidialplebiszite). Gemäß Artikel 11 der französischen Verfassung kann der Präsident der Republik auf Vorschlag der Regierung oder auf gemeinsamen Vorschlag beider Kammern des Parlaments einen Volksentscheid in die Wege leiten. Er kann jeden Gesetzentwurf zum Volksentscheid bringen, der die Organisation der öffentlichen Gewalten sowie Reformen der Wirtschafts-, Sozial- oder Umweltpolitik der Nation und der dazu beitragenden öffentlichen Dienste betrifft oder auf die Ermächtigung zur Ratifikation eines Vertrages abzielt, welcher, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen, Auswirkungen auf das Funktionieren der Institutionen hätte.i
Führt der Volksentscheid zur Annahme des Gesetzentwurfs oder Gesetzesvorschlags, so verkündet der Präsident das Gesetz binnen fünfzehn Tagen nach der Verkündigung der Ergebnisse der Volksbefragung.
Geteilte Initiative
Gemäß Artikel 11 der französischen Verfassung kann ein Volksentscheid zu einem der (im Hinblick auf die Präsidialreferenden) genannten Themen auch auf Initiative eines Fünftels der Mitglieder des Parlaments, die von einem Zehntel der in den Wählerlisten eingetragenen Wähler unterstützt wird, anberaumt werden. Diese Initiative wird in Form eines Gesetzesvorschlags ergriffen und kann nicht die Aufhebung einer seit weniger als einem Jahr verkündeten Rechtsbestimmung zum Gegenstand haben.ii
Eine solche geteilte Initiative (référendum d’initiative partagée; auch als „kombinierte Initiative“ bezeichnet) hat es in der Praxis noch nie gegeben. Das hängt zum einen mit den Einschränkungen hinsichtlich der möglichen Gegenstände einer geteilten Initiative, zum anderen aber auch mit der hohen Hürde für die Zulassung zusammen. In einem Zeitraum von neun Monaten 10 % der Wähler zur Unterstützung mittels eines Formulars zu bewegen, ist kein leichtes Unterfangen. Zum Vergleich: In der Schweiz werden etwa 2 % für eine Volksinitiative benötigt. Das Parlament kann einen Volksentscheid auch leicht verhindern. Er entfällt nämlich, wenn sich binnen sechs Monaten nach dem erfolgreichen Volksbegehren eine der beiden Parlamentskammern mit dem Gesetzentwurf befasst. In den Jahren von 2008 bis 2015 konnte es keine geteilte Initiative geben, weil ein Ausführungsgesetz fehlte.iii
Ein Abstimmungsquorum gibt es in Frankreich bei Volksentscheiden nicht. Damit sind diese auch bei geringer Teilnahme gültig.
Keine Volksinitiative möglich
Gegenwärtig können nur der Präsident auf Vorschlag der Regierung odér die Mitglieder des Parlaments Volksentscheide initiieren. Die Möglichkeit der Volksinitiative (référendum d’initiative citoyenne; RIC) sieht die französische Verfassung nicht vor. Sie wird allerdings seit Jahrzehnten von verschiedenen politischen Organisationen und Verbänden gefordert und gehört auch zu den zentralen Forderungen der „Gelbwesten“. Volksinitiativen könnten Verfassungsänderungen, die Abschaffung von Gesetzen, die Absetzung von politisch Verantwortlichen oder ein neues Gesetz anstreben.
Obrigkeitlich ausgelöste Verfahren sind für den Präsidenten, die Regierung zunächst einmal insofern vorteilhaft, als sie beim politischen Gestalten die Zügel in der Hand behalten. Allerdings werden möglicherweise Forderungen großer Teile der Bevölkerung nicht ausreichend wahrgenommen und umgesetzt. Darüber hinaus bergen sie die Gefahr, dass Personal- und Sachfragen miteinander vermengt werden. Der Volksentscheid, bei dem es eigentlich um die zur Abstimmung stehende Sache gehen sollte, wird dann dazu genutzt, um den Präsidenten und/oder die Regierung zu unterstützen oder abzustrafen. Letztendlich kann der Präsident und/oder die Regierung aus dem Volksentscheid gestärkt oder geschwächt hervorgehen. Um das Ergebnis von vornherein zu beeinflussen, können Abstimmungsfragen manipulativ formuliert werden.
In Frankreich hat die Häufigkeit von Volksentscheiden in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Zwischen 1958 und 1969, also in einem Zeitraum von 11 Jahren, hat es fünf Volksentscheide gegeben. Das sind genauso viele wie in den Jahren 1969-2022, also in einem Zeitraum von 53 Jahren. Die politischen Verantwortlichen bevorzugen flexiblere politische Instrumente als die Volksentscheide. Den Volksentscheiden sind von der Verfassung enge Grenzen gesetzt. Alle seit 1958 auf nationaler Ebene durchgeführten Volksentscheide sind Präsidialreferenden gewesen.iv
i Vgl. https://www.elysee.fr/de/franzoesisches-praesidialamt/die-verfassung-der-fuenften-republik (aufgerufen am 06.12.2022).
ii Vgl. https://www.elysee.fr/de/franzoesisches-praesidialamt/die-verfassung-der-fuenften-republik (aufgerufen am 06.12.2022).
iii Ausführlich zu Volksentscheiden in Frankreich siehe Frank Rehmet, Volksabstimmungen in Frankreich – ein Überblick (Version 03), Berlin 2019; zu den Referenden siehe auch https://www.service-public.fr/particuliers/vosdroits/F1964 (aufgerufen am 06.12.2022); ausführlich zur geteilten Initiative siehe https://www.vie-publique.fr/questions-reponses/38683-le-referendum-dinitiative-partagee-rip (aufgerufen am 06.12.2022). Einen Überblick über die Ländergruppe, in denen direktdemokratische Verfahren die Ausnahme sind und es mehr Erfahrungen mit Volksbefragungen und Volksabstimmungen, die durch Staatsorgane ausgelöst wurden, gibt, siehe Frank Rehmet, Neelke Wagner, Tim Willy Weber, Volksabstimmungen in Europa. Regelungen und Praxis im internationalen Vergleich, Opladen – Berlin – Toronto 2020, 139-153.
iv Vgl. https://www.service-public.fr/particuliers/vosdroits/F1964 (aufgerufen am 06.12.2022).