In Plädoyers für bundesweite Volksentscheide wird oftmals vorgebracht, dass Bundestagsabgeordnete oftmals von der Materie, über die sie abstimmen, nicht wirklich Ahnung hätten. Ihnen fehle es an beruflicher Praxis, ihnen fehlten wirtschaftliche und betriebliche Kenntnisse, sie seien von Lobbyisten beeinflusst und unterlägen dem Fraktionszwang. Hinzu käme Zeitdruck, der sorgfältiger Vorbereitung entgegenstehe. Aufgrund dieser Defizite müsse das Volk die Möglichkeit haben, durch bundesweite Abstimmungen auf die Gesetzgebung Einfluss zu nehmen.

Grundsätzlich gilt: Politische Entscheidungen setzen voraus, dass sich diejenigen, die entscheiden, ausreichend informieren und verschiedene Argumente abwägen. Aber wie informieren sich überhaupt Bundestagsabgeordnete, bevor sie abstimmen? Inwiefern können sie auf Informationsquellen zurückgreifen, die „normalen“ Bürgern nicht zur Verfügung stehen, und damit Sachverhalte besser beurteilen?

Vielfalt der Entscheidungsinhalte

Zunächst einmal müssen wir uns bewusst machen, dass Bundestagsabgeordnete über eine Vielzahl verschiedener Abstimmungsinhalte befinden müssen. Die beruflichen Qualifikationen der Abgeordneten sind unterschiedlich und auch unterschiedlich gut. Aber grundsätzlich gilt: Die beruflichen Kenntnisse decken nur ein sehr kleines Spektrum derjenigen Inhalte ab, über die entschieden wird. Kein Abgeordneter kann über alles Bescheid wissen. Alle Abgeordneten befassen sich daher nur mit bestimmten Sachgebieten genauer. In allen anderen Sachgebieten eignen sie sich nur in dem Maße Informationen an, wie es für eine verantwortungsbewusste Abstimmung erforderlich ist.

Nicht alle Abgeordneten sind gleich verantwortungsbewusst. Es gibt Abgeordnete, die ihrer Verantwortung in hohem Maße nachkommen, und Abgeordnete, die dies weniger oder gar nicht tun. Die möglichen Informationsquellen werden folglich unterschiedlich und auch unterschiedlich intensiv genutzt. Damit ist auch das Niveau der Wissensaneignung unterschiedlich. Diese Unterschiede betreffen allerdings nicht nur die Abgeordneten, sondern auch die einzelnen Bürger. Bei Volksentscheiden informieren diese sich ebenfalls unterschiedlich und auch unterschiedlich intensiv. Auch sie schreiten mit unterschiedlichem Wissensniveau zur Abstimmung. Insofern soll im Folgenden der Informationsprozess „durchschnittlicher“ Bundestagsabgeordneter skizziert werden.

Gesetzentwürfe der zuständigen Fachministerien

Gesetzentwürfe können von der Bundesregierung, aus dem Bundestag oder vom Bundesrat eingebracht werden. Mehr als die Hälfte der eingebrachten Entwürfe kommt von der Regierung. Regierungsvorlagen werden meistens im fachlich zuständigen Ministerium auf Referatsebene erarbeitet, daher heißt ein noch nicht von der Bundesregierung beschlossener Gesetzentwurf „Referentenentwurf“. In diesen „Referentenentwurf“ fließt das Fachwissen der dem Referat zugehörigen Personen ein.

Der „Referentenentwurf“ wird in der Regel durch das Kabinett, also alle an der Regierung beteiligten Minister unter Leitung des Bundeskanzlers, gebilligt. Der Beschluss des Kabinetts macht aus dem Gesetzesvorhaben einen förmlichen Regierungsentwurf. Dieser wird zunächst dem Bundesrat zur Stellungnahme zugeleitet. Mit dieser Stellungnahme versehen geht der Entwurf in die sogenannte erste Lesung, d. h. er wird im Bundestagsplenum diskutiert. Anschließend wird er an die zuständigen Fachausschüsse überwiesen und dort intensiv beraten.i

Ein Gesetzentwurf besteht aus dem Vorblatt, dem eigentlichen Gesetzentwurf, der Begründung, der Abschätzung der Gesetzesfolgen und der Abschätzung der Bürokratiekosten. Das Vorblatt stellt das Gesetzesvorhaben nach einer bestimmten Gliederung von A bis F vor. Im einzelnen werden beschrieben: Problem und Ziel, Lösung, Alternativen, finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte, sonstige Kosten und Bürokratiekosten. Ein Gesetzentwurf stellt die Grundlage der weiteren Beratungen und Diskussionen dar.ii

Regierung und Opposition

In Deutschland ist die parlamentarische Arbeit gewöhnlich durch eine mehr oder weniger große Konfrontation zwischen Regierung und Opposition geprägt. In der Schweiz dagegen herrscht das Konsensprinzip. Regiert wird die Schweiz durch den Bundesrat, einem Kollegium von sieben Mitgliedern, die den vier stärksten Parteien und verschiedenen Regionen entstammen. Der Bundesrat fällt seine Entscheide mittels Konsens, d. h. seine gleichberechtigten Mitglieder einigen sich untereinander. Sämtliche Mitglieder des Bundesrates haben die Beschlüsse des Gremiums nach außen zu vertreten, selbst dann, wenn sie persönlich anderer Meinung sind.iii

In Deutschland strebt insbesondere die Regierung Eintracht an. Aber die Regierung besteht nicht zwangsläufig aus den stärksten vier Parteien. Und sie wird auch nicht auf Konsens verpflichtet. Sofern keine Partei die absolute Mehrheit erhält, wird nach Koalitionsverhandlungen eine Regierungskoalition gebildet. Bei umstrittenen Punkten versucht sie einen gemeinsamen Nenner zu finden, und sei es, dass dieser mit schwammigen Formulierungen gefunden wird. Regierung und Opposition stehen in der Folge einander gegenüber und auch die Opposition kann eigene Gesetzentwürfe einbringen. Diese haben jedoch kaum eine Chance, angenommen zu werden. Sie dienen im Normalfall dazu, eigene Positionen deutlich vorzubringen und sich zu profilieren.

Allgemein zugängliche Medien

Grundsätzlich können sich alle Abgeordneten über diejenigen Medien informieren, die allen Bürgern offenstehen: Internet, Fernsehen, Radio, (Fach-)Zeitschriften und Bücher. In den letzten Jahren sind verstärkt die sozialen Medien und Kurznachrichtendienste hinzugekommen. Alle diese Medien spielen jedoch bei den Abgeordneten eine geringere Rolle als bei den gewöhnlichen Bürgern. Das lässt sich mit dem Zeitdruck der Abgeordneten erklären, aber auch damit, dass den Abgeordneten noch weitere Informationsmöglichkeiten offenstehen, die von den gewöhnlichen Bürgern kaum oder nicht genutzt werden (können).

Anfragen an Fachministerien und Behörden

Die Opposition kann bei der Erarbeitung oder Bewertung von Gesetzentwürfen nicht auf das Fachpersonal der zuständigen Ministerien zurückgreifen. Dennoch stehen auch den Abgeordneten der Opposition gute Informationsmöglichkeiten zur Verfügung.

Alle Abgeordneten können von den Behörden (Fachministerien und Behörden) Auskünfte einholen. Auskunft wird jedoch nur zu öffentlich Zugänglichem erteilt, nicht zu Verschlusssachen. Auch allen Bürgern steht ein Auskunftsrecht zu. Zu diesem Zweck existiert das Informationsportal „Frag den Staat“, über das Anfragen gestellt werden können. Die Antworten wiederum können auf dem Portal allen Nutzern zugänglich gemacht werden.iv

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags

Große Bedeutung kommt den Wissenschaftlichen Diensten (WD) des Deutschen Bundestags zu. Die Wissenschaftlichen Dienste sind in verschiedene Fachbereiche untergliedert. Alle Abgeordneten und auch die Gremien können an sie Anfragen richten. Die Anfragen werden meist recht ausführlich beantwortet. Bei ihren Antworten können die Fachbereiche auf zahlreiche Fachpublikationen, auf interne und externe Datenbanken, auf eine umfangreiche Bibliothek sowie auf die Pressedokumentation zurückgreifen. Auch erhalten sie über ein internationales Netzwerk der Zusammenarbeit von Parlamenten Informationen aus dem Ausland.

Neben den Auftragsarbeiten haben die Wissenschaftlichen Dienste in letzter Zeit ihr Angebot an aktiven Informationen ausgebaut. Sie bieten den Abgeordneten Fachdossiers und Hintergrundinformationen zu Themen an, bei denen abzusehen ist, dass sie demnächst auf die politische Tagesordnung kommen.

Mittels der Antworten der Wissenschaftlichen Dienste können sich alle Abgeordneten unparteiisch und unabhängig von den Fachministerien über bestimmte Themen informieren. Allerdings können die Antworten nur einen Grundstock an Informationen liefern und dienen in erster Linie der Einarbeitung. Politische Entwicklungen sind in einem ständigen Fluss, so dass die von den Wissenschaftlichen Diensten gelieferten Antworten meist nicht auf dem neuesten Stand sind. Auch arbeiten sie recht langsam, so dass sich Abgeordnete für ihre tagesaktuelle Arbeit weiterer Informationsquellen bedienen müssen.v

Mitarbeiter der Abgeordneten und Fraktionen

Den Abgeordneten steht eine bestimmte Summe (April 2022: monatlich 23205 Euro) für Mitarbeiter zu, die sie bei ihrer parlamentarischen Arbeit unterstützen. Den Mitarbeitern können Rechercheaufgaben zugewiesen werden. Auch können die Abgeordneten auf Fraktionsmitarbeiter zurückgreifen. Darüber hinaus stehen die Abgeordneten in einem ständigen Austausch mit anderen Abgeordneten, speziell Fraktionskollegen. Sie können also gezielt sachkundige Personen ansprechen.vi

Intranet

Zusätzlich zu allgemein zugänglichen Informationsquellen haben die Abgeordneten auch Zugang zum Intranet ihrer eigenen Fraktion und zum Intranet des Bundestags. Bei dem Intranet handelt es sich um ein internes, passwortgeschütztes Netzwerk, zudem nur bestimmte Personengruppen Zugang haben.

Das Intranet enthält eine interne Datenbank und verschiedenste Fachinformationen u. a. der Wissenschaftlichen Dienste. Zudem bietet es die Möglichkeit der internen Kommunikation und Interaktion.

Arbeitskreise und Arbeitsgruppen der Fraktionen

Die Abgeordneten können sich unmöglich in allen Themenbereichen auskennen. Vielmehr widmen sie sich vertieft nur ganz bestimmten Themen und arbeiten in Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen. Arbeitskreise und Arbeitsgruppen leisten die eigentliche inhaltliche Arbeit der einzelnen Fraktionen. Sie erarbeiten eigene Gesetzentwürfe, Anträge und Befragungen der Regierung. Außerdem laden sie Experten ein, um ihre Ideen zu diskutieren.

Die Arbeitskreise und Arbeitsgruppen sind fraktionsintern. Sie richten sich an den Fachausschüssen des Bundestags aus. Bei den kleineren Fraktionen müssen sich Arbeitskreise und Arbeitsgruppen mitunter um mehrere Ausschüsse kümmern.

In den Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen legen die Abgeordneten ihre Linie fest, bevor sie im Ausschuss oder Plenum für oder gegen etwas argumentieren. Auch legen sie fest, wie sie argumentieren.vii

Kontakte zwischen den Fraktionen

Nicht nur innerhalb der eigenen Fraktion werden Kontakte gepflegt, sondern auch mit anderen Fraktionen. Am engsten sind die Kontakte zwischen den Regierungsfraktionen, aber auch zu den anderen Fraktionen gibt es Kontakte. Die Kontakte erfolgen in den regulären Sitzungen, aber auch außerhalb der regulären Sitzungen tauschen sich die Abgeordneten aus und treffen sachliche Absprachen. Die informelle Kommunikation erfolgt nicht nur im Rahmen des Parlamentsbetriebs (Gespräche „zwischen Tür und Angel“, bei Mahlzeiten usw.), sondern auch bei rein privaten Zusammenkünften. Das Kommunikationsnetz zwischen den Abgeordneten des Bundestages ist also eng geknüpft, wobei die Kontakte seitens der Fraktionen und Abgeordneten unterschiedlich intensiv gepflegt werden.viii

Ausschüsse als vorbereitende Beschlussorgane des Bundestags

Die Ausschüsse des Bundestags sind nicht fraktionsintern, sondern setzen sich aus Abgeordneten der verschiedenen Fraktionen zusammen. Sie befassen sich mit ganz bestimmten Themenbereichen, beispielsweise mit „Arbeit und Sozialem“. In der Geschäftsordnung des Bundestages werden die ständigen Ausschüsse als „vorbereitende Beschlussorgane des Bundestages“ bezeichnet. Das bedeutet, dass die entscheidenden Beratungen zu Gesetzentwürfen nicht im Plenum des Bundestags, sondern in den einzelnen Ausschüssen erfolgen. Information und Meinungsbildung der Ausschussmitglieder erfolgt über die Ausschussvorlagen und -beratungen.ix

In der Regel erhalten die Ausschüsse ihren Beratungsgegenstand vom Bundestagsplenum zugewiesen: Nach der ersten Lesung im Plenum werden Gesetzentwürfe an die betroffenen Fachausschüsse zur Beratung überwiesen, sei es zur federführenden Beratung, zur Mitberatung oder auch nur zur gutachterlichen Stellungnahme. Die Beratung in den Ausschüssen schließt mit einem Bericht, der das Ergebnis der Beratungen enthält, und mit der Beschlussempfehlung für das Plenum. Es kann eine Abänderung, Annahme oder Ablehnung des Gesetzentwurfs empfohlen werden. Auf Grundlage der Ausschussempfehlungen erfolgt dann die zweite Lesung (Beratung) des Gesetzentwurfs und die Abstimmung über die einzelnen Bestimmungen. Anschließend erfolgt noch eine dritte Lesung, die mit der Abstimmung über den gesamten Gesetzentwurf schließt. Nach Annahme im Bundestag wird das Gesetz dem Bundesrat zugeleitet.x

Die Ausschussmitglieder werden von den Fraktionen bestimmt. Jeder Ausschuss ist entsprechend der Größe der einzelnen Fraktionen im Bundestag zusammengesetzt. Dabei liegt es nahe, bei der Zusammensetzung der Ausschüsse berufliche Qualifikationen und sonstiges Vorwissen zu berücksichtigen. Die meisten Bundestagsabgeordneten sind Akademiker, eine Berufsausbildung hat nur eine Minderheit absolviert. Die meisten Studienabschlüsse erfolgten in den Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaften.xi Das Bildungsniveau der meisten Abgeordneten ist also vergleichsweise hoch. Dabei spiegeln die Bildungsabschlüsse nicht die Bevölkerungsstruktur wieder. So kommt es, dass den Abgeordneten immer wieder vorgeworfen wird, sie wüssten über den Alltag bestimmter Berufsgruppen und über die Lebensumstände insbesondere der einfachen, nichtakademischen Bevölkerung zu wenig Bescheid.

Stellungnahmen und Anhörungen

In den Ausschüssen diskutieren die Abgeordneten untereinander und tauschen sich aus. All das Fachwissen, das die Abgeordneten bereits haben, reicht für die Erstellung und Beurteilung von Gesetzentwürfen nicht aus. Daher müssen auch externe Sachverständige und Verbände angehört werden. Alle im Hinblick auf ein bestimmtes Gesetzesvorhaben relevanten Verbände und auch einzelne Sachverständige werden – ganz unabhängig von ihrer Position – um eine schriftliche Stellungnahme gebeten.

Darüber hinaus findet eine Anhörung statt. Zu einer Anhörung werden Sachverständige verschiedener Verbände und auch Einzelsachverständige eingeladen. In kurzen Vorträgen beurteilen sie den Gesetzentwurf bzw. die Gesetzentwürfe und begründen ihr Urteil.

Weitere parlamentsinterne Informationsquellen

Die Arbeit der Ausschüsse bleibt der Bevölkerung meist verborgen. Die Plenardebatten sind im öffentlichen Bewusstsein viel präsenter, zumal wenn sie übertragen werden. Allerdings bieten sie für die Abgeordneten nur noch wenig Neues, weshalb sie bei der Informationsbeschaffung nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Von größerer Bedeutung sind die Kleinen und Großen Anfragen, die Fraktionen oder Abgeordnete in Fraktionsstärke stellen können. Kleine Anfragen werden vor allem von der Opposition genutzt, um die Regierung zu kontrollieren und Informationen sowie Stellungnahmen zu erhalten. Große Anfragen werden schriftlich beantwortet und auf Verlangen im Bundestag debattiert. Sie fordern die Bundesregierung zur Aufklärung über wichtige politische Fragen auf.

Bei der Aktuellen Stunde handelt es sich um eine spontane Aussprache im Plenum, in der Themen von allgemeinem aktuellen Interesse diskutiert werden. Sie wird bei besonderem Informationsbedarf der Abgeordneten anberaumt.

Wenn es um eine große Zukunftsfrage geht, die nicht einfach im politischen Tagesgeschäft beantwortet werden kann, dann wird eine Enquête-Kommissionen (der französische Begriff „enquête“ bedeutet „Untersuchung“) gebildet. Über die Mitglieder der Enquête-Kommission entscheiden die Fraktionen einvernehmlich. Enquête-Kommissionen sind Arbeitsgruppen, die beauftragt werden, spezielle fachliche Fragen zu klären. Gemeinsam mit externen Sachverständigen, zum Beispiel Wissenschaftlern, beraten Abgeordnete hier ökonomische, juristische oder soziale Aspekte. Sie bereiten langfristige Entscheidungen des Bundestages inhaltlich vor. Das Ergebnis ist ein Abschlussbericht, oft mehrere tausend Seiten dick. Er enthält neben ausführlichen Informationen oft Empfehlungen für Gesetzesänderungen oder neue Gesetze.xii

Wenn es darum geht, mögliche Missstände in Regierung und Verwaltung und mögliches Fehlverhalten von Politikern zu untersuchen, kann ein Untersuchungsausschuss eingerichtet werden. Untersuchungsausschüsse können Zeugen und Sachverständige vernehmen und sonstige Ermittlungen durch Gerichte und Verwaltungsbehörden vornehmen lassen. Das Ergebnis fasst der Untersuchungsausschuss in einem Bericht an das Plenum zusammen.

Informationen aus der Bevölkerung

Ein ganz eigener Informationsweg sind die Informationen, die die Abgeordneten insbesondere über Briefe und E-Mails aus der Bevölkerung erhalten. Es gehen Briefe und E-Mails von Einzelpersonen und Bürgergruppen ein, individuelle Schreiben und vervielfältigte. Der Posteingang ist enorm und wird teils von den Mitarbeitern, teils von den Abgeordneten selbst bearbeitet. Zeitdruck erfordert eine schnelle Sichtung und auch Gewichtung. Den Zuschriften aus der Bevölkerung wird seitens der Abgeordneten durchaus Bedeutung beigemessen.xiii

Präsenz im Wahlkreis

Abgeordnete, die in ihrem Wahlkreis ein Direktmandat errungen haben, verbringen etwa die Hälfte der Zeit mit Parlamentsarbeit in Berlin und die andere Hälfte der Zeit in ihrem Wahlkreis. Auch Abgeordnete, die ihr Mandat über eine Landesliste errungen haben, sind gewöhnlich mit Aufgaben in ihrer Heimat betraut.

Während der Wochen im Wahlkreis treffen die Abgeordneten bei Sprechstunden, Gesprächsterminen, Veranstaltungen und Betriebsbesichtigungen mit einer Vielzahl von Menschen zusammen. Durch diese persönlichen Begegnungen erhalten sie eine Vielzahl Informationen, speziell auch ihren Wahlkreis betreffend.xiv

Abstimmungsverhalten – Theorie und Praxis

Gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sind Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Demnach agieren sie gänzlich unabhängig, informieren sich breit und eigenständig und stimmen nach bestem Wissen und Gewissen ab. Dazu passt, dass sie nahezu perfekte Möglichkeiten haben, sich zu informieren. So weit die Theorie.

In der Praxis werden die Informationsquellen aber nicht unbedingt ausgeschöpft. Auch sind Abgeordnete nur selten so unabhängig, wie es die Theorie annehmen lässt. Abgeordnete stehen unter einem hohen Zeitdruck, was für die Informationsverarbeitung nicht förderlich ist. Insbesondere besteht die Gefahr, dass die sorgfältige Reflexion zu kurz kommt. Tatsächlicher oder vermeintlicher Erwartungsdruck seitens der Bevölkerung und/oder speziell der eigenen Wählerschaft kann Druck aufbauen. Abgeordnete müssen sich mit ihrer Fraktion oder auch den Koalitionspartnern abstimmen. Bei manchen Parteien herrscht auch Fraktionszwang (auch Fraktionsdisziplin genannt). Dieser soll verhindern, dass Abweichler Koalitionsvorhaben blockieren. Ein Teil der Abgeordneten geht auch bezahlten Nebentätigkeiten nach. Die wirtschaftlichen Verflechtungen – auch wenn sie durchaus nachvollziehbar und begründet sein mögen – stehen einer wirklichen Unabhängigkeit entgegen. Und schließlich üben Lobbyisten erheblichen Einfluss auf Entscheidungen aus. Das geschieht auch über Parteispenden.

Neben all diesen Bindungen und Einflüssen ist auch zu bedenken, dass eine wirklich umfassende und unabhängige Urteilsbildung und Entscheidung die Bereitschaft voraussetzt, sich auch mit „unangenehmen“ Sichtweisen und Argumenten zu befassen. Unangenehm sind Sichtweisen und Argumente, die dem eigenen Weltbild (scheinbar) widersprechen. Nur wer unvoreingenommen die verschiedenen Argumente zur Kenntnis nimmt und prüft, wird zu einem sachgemäßen Ergebnis kommen und entsprechend abstimmen.

So bleibt festzuhalten, dass die Abgeordneten viel bessere Möglichkeiten haben sich zu informieren und in Sachverhalte einzuarbeiten als die einfachen Bürger. Im Grunde ist es damit durchaus berechtigt, dass sie stellvertretend für das Volk die politischen Entscheidungen treffen. Angesichts der Tatsache, dass die theoretische Idealvorstellung – zumindest bei einem Teil der Abgeordneten – nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmt, ist aber auch die Forderung nach bundesweiten Volksentscheiden nachvollziehbar. Die Befürworter von bundesweiten Volksentscheiden müssen sich aber ebenfalls bewusst sein, dass ihre Idealvorstellungen von Volksentscheiden nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen. Auch die abstimmungsberechtigten Bürger sind nicht unbedingt gut informiert und sind auch nicht unbedingt bereit, sich gut zu informieren. Auch sie sind gewöhnlich nicht ganz ungebunden und von wirtschaftlichen Verflechtungen und finanziellem Eigeninteresse frei.

i Zur Entstehung eines Gesetzes siehe https://www.bpb.de/themen/politisches-system/24-deutschland/40463/wie-ein-gesetz-entsteht/ (aufgerufen am 14.10.2022).

ii Zum Referentenentwurf und Regierungsentwurf siehe https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2010/29211275_kw14_gesetzentwurf-201480 (aufgerufen am 14.10.2022).

iii Zum Bundesrat siehe https://www.admin.ch/gov/de/start.html (aufgerufen am 07.12.2022).

iv Vgl. https://fragdenstaat.de/ (aufgerufen am 14.10.2022).

v Vgl. https://www.bundestag.de/wissenschaftlichedienste (aufgerufen am 14.10.2022); https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftliche_Dienste_des_Deutschen_Bundestages (aufgerufen am 14.10.2022). Für wichtige Informationen u. a. im Hinblick auf die Nutzung der Wissenschaftlichen Dienste und schnellerer Informationsquellen danke ich Dr. Christian Reck, Büroleiter des Wahlkreisbüros Dr. Martin Rosemann (SPD).

vi Vgl. https://www.bundestag.de/abgeordnete/mdb_diaeten/1334d-260806 (aufgerufen am 14.10.2022).

vii Zu den Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen siehe https://www.mitmischen.de/bundestag-wissen/lexikon/a/arbeitsgruppe/arbeitskreis (aufgerufen am 14.10.2022).

viii Vgl. Dietrich Herzog, Hilke Rebenstorf, Camilla Werner, Bernhard Weßels, Abgeordnete und Bürger: Ergebnis einer Befragung der Mitglieder des 11. Deutschen Bundestages und der Bevölkerung, Opladen 1990, 69-72.

ix Zu den Ausschüssen siehe https://www.bundestag.de/webarchiv/Ausschuesse/ausschuesse19/aufgaben-19-532258 (aufgerufen am 14.10.2022).

x Vgl. https://www.bundestag.de/services/glossar/glossar/Z/zweite_lesung-245582.

xi Vgl. https://www.humanresourcesmanager.de/content/die-beruflichen-qualifikationen-der-bundestagsabgeordneten/ (aufgerufen am 14.10.2022).

xii Vgl. https://www.mitmischen.de/bundestag-wissen/lexikon/e/enquete-kommission (aufgerufen am 14.10.2022).

xiii Die hohe Bedeutung, die den Zuschriften aus der Bevölkerung beigemessen wird, betonen Dietrich Herzog, Hilke Rebenstorf, Camilla Werner, Bernhard Weßels, Abgeordnete und Bürger: Ergebnis einer Befragung der Mitglieder des 11. Deutschen Bundestages und der Bevölkerung, Opladen 1990, 79-82.

xiv Für den guten Einblick in die Vielfalt der parlamentarischen Arbeit danke ich Michael Donth, Bundestagsabgeordneter der CDU.